Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
Rz. 91
Der Jahresabschluss ist gem. § 243 Abs. 1 HGB nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) aufzustellen. Wie § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB deutlich macht, sind die GoB auf die gesamte Rechnungslegung bezogen. Dabei ist zwischen formellen GoB (Buchführungs- und Bilanzierungstechnik) und materiellen GoB (z.B. allgemeine Bilanzierungsgrundsätze, Gliederungs-, Ansatz-, Bewertungsregeln) zu unterscheiden.
Das System der GoB ist zunächst rechtsform- und größenunabhängig angelegt. Ergänzend schreibt § 264 Abs. 2 HGB für Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften ohne Vollhaftung einer natürlichen Person (§ 264a HGB) vor, dass deren Jahresabschluss unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln habe. Mit § 264 Abs. 2 HGB hat der deutsche Gesetzgeber die durch die 4. EG-Richtlinie gebotene Umsetzung des das angelsächsische Bilanzrecht bestimmenden "true-and-fair-view"-Prinzips in deutsches Recht vorgenommen. Insb. die ausdrückliche Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung im Wortlaut des § 264 Abs. 2 HGB hat eine intensive Erörterung des Verhältnisses von § 264 Abs. 2 HGB zu § 243 Abs. 1 HGB ausgelöst. In der Norm spiegelt sich das typisch europarechtliche Problem der Angleichung verschiedener Rechtskreise wider. Denn die deutsche Auffassung von GoB und das englische bzw. internationale, auf Einzelfallgerechtigkeit aufbauende true-and-fair-view-Prinzip, bei dem die Information des Kapitalanlegers im Vordergrund steht, müssen miteinander in Einklang gebracht werden.
Im Kern geht es um das methodische Problem, ob ein unter Beachtung der übrigen gesetzlichen Vorgaben zustande gekommener Jahresabschluss durch § 264 Abs. 2 HGB zu korrigieren ist. Dies wäre dann der Fall, wenn man die Generalklausel i.S.d. traditionellen britischen Auffassung als "overriding principle" i.S.e. Vorrangprinzips verstünde. Die herrschende Meinung im deutschen Schrifttum folgt diesem Verständnis nicht. Vielmehr bildet § 243 Abs. 1 HGB die für alle Unternehmen geltende bilanzrechtliche Generalnorm. § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB ist nur subsidiär zu berücksichtigen. Sollte ein nach den gesetzlichen Vorschriften und Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufgestellter Jahresabschluss aufgrund besonderer Umstände nicht ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Bilanz- und Ertragslage abbilden, müssen die zusätzlichen Angaben im Anhang vorgenommen werden (vgl. § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB).