Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
a) Theoretische Grundlagen
Rz. 92
Der Gesetzgeber verweist mit den GoB auf ein nicht mehr unmittelbar tatbestandsmäßig fixiertes Ordnungssystem. Der Rechtsanwender muss den unbestimmten Rechtsbegriff im konkreten Fall zur Subsumtionsreife führen. Dabei stellt sich das Problem, anhand welcher Methode die GoB zu ermitteln sind. Die traditionelle Auffassung hat die GoB auf induktive Art und Weise aus der Anschauung und tatsächlichen Übung der Kaufleute über eine ordnungsmäßige Bilanzierung hergeleitet. Die heute herrschende Meinung ermittelt die GoB deduktiv aus dem Sinn und Zweck der Rechnungslegungsvorschriften. Damit wird sichergestellt, dass die Ausfüllung des Rechtsbegriffs "GoB" ein normatives Verfahren der Rechtsanwendung bleibt. Dies gilt umso mehr, als in den §§ 238 ff. HGB gesetzliche Wertungen festgeschrieben sind, die anhand des traditionellen Auslegungskanons angewendet werden können. Durch die kodifizierten GoB und die nicht kodifizierten, aber allgemein anerkannten GoB besteht ein weitgehendes fixiertes Regelungssystem. Nichtsdestoweniger wird mit der Bezugnahme auf die GoB zugleich ein offenes System begründet.
b) Kodifizierte GoB
Rz. 93
Die Buchführung muss nach § 239 Abs. 2 HGB dokumentationstechnisch und inhaltlich richtig sein. Darin spiegelt sich der Grundsatz der Bilanzwahrheit wider. Gemeint ist nicht eine objektive Richtigkeit, da viele Normen vom Bilanzierenden ein bewusstes Abweichen von den tatsächlichen Verhältnissen gestatten. Entscheidend ist allein die sachliche Übereinstimmung mit dem Normsystem des Handelsbilanzrechts. Namentlich muss der Jahresabschluss gem. § 246 Abs. 1 HGB sämtliche Aktiva und Passiva (u.U. mit einem Erinnerungswert) enthalten, soweit gesetzlich nicht etwas Abweichendes vorgeschrieben ist. Die Ausübung von Ansatz- und Bewertungswahlrechten entspricht damit dem Grundsatz der Bilanzwahrheit. Allerdings wird vor dem Hintergrund des § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB die Ansicht vertreten, dass von den Wahlrechten nicht in einer Weise Gebrauch gemacht werden darf, die der dort formulierten Zielvorstellung zuwiderläuft.
Rz. 94
§§ 238 Abs. 1 Satz 2, 243 Abs. 2 HGB normieren den Grundsatz der Bilanzklarheit für Buchführung und Jahresabschluss. Subjektiver Maßstab für die Verständlichkeit ist der eines Bilanzkundigen. Verhindert werden soll eine verschleiernde Darstellung. Ergänzende Vorschriften für die äußere Form und die Art der Darstellung der Bilanz und GoB enthalten die §§ 266, 268, 275 HGB.
Rz. 95
Die Bilanzkontinuität ist ein unverzichtbares Element eines auf Ergebnisausweis angelegten Jahresabschlusses. In formeller Hinsicht verlangt dieser Grundsatz die Übereinstimmung von Eröffnungsbilanz eines Geschäftsjahres und Schlussbilanz des vorangegangenen Geschäftsjahres (§ 252 Abs. 1 Nr. 1 HGB). Materiell handelt es sich um dieselbe Bilanz, die allein aus buchhalterischen Gründen in Schluss- und Eröffnungsbilanz getrennt wird. Aus der formellen Bilanzkontinuität folgt die sog. Zweischneidigkeit der Bilanz. Die jeweiligen Bilanzansätze werden automatisch mit gegenläufiger Ergebnisauswirkung in späteren Rechnungsperioden fortgeführt. Dies führt zu einem automatischen Fehlerausgleich. Damit wird sichergestellt, dass der Gesamtgewinn periodenübergreifend korrekt erfasst wird. Bei Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften ohne eine natürliche Person als Vollhafter normiert § 265 Abs. 1 HGB ergänzend die sog. Darstellungsstetigkeit dergestalt, dass die Form der Darstellung und die inhaltliche Abgrenzung der Posten in den aufeinander folgenden Jahresabschlüssen beizubehalten ist.
Rz. 96
Für die Bewertung ordnet § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB den Fortführungsgrundsatz (going-concern) an. Danach ist von der Fortführung der Unternehmenstätigkeit auszugehen, sofern dem nicht tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten entgegenstehen. Solange davon auszugehen ist, dass das Unternehmen fortgeführt wird, dürfen deshalb Aktiva und Passiva nicht mit Liquidationswerten angesetzt werden. Eine periodische Ergebnisrechnung ist ohne das Fortführungsprinzip nicht möglich. Das Anschaffungswertprinzip des § 253 HGB mit der Aufwandsverteilung auf die voraussichtliche Nutzungsdauer des Vermögensgegenstandes ist nur bei unterstellter Fortführung des Unternehmens stimmig. Der Fortführungsgrundsatz findet dort seine Grenzen, wo unter Zugrundelegung einer objektiven Fortführungsprognose das Unternehmen nicht mehr fortgeführt werden darf (gesetzliche Auflösungsgründe, Insolvenz) oder kann.
Rz. 97
Gerade in einer Unternehmenskrise kommt dem Going-Concern-Grundsatz des § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB entscheidende Bedeutung zu und kann Haftungsproblematiken begründen. Es spricht (unabhängig von einer Krise) so lange eine Vermutung für die Unternehmensfortführung, als nicht Umstände sichtbar werden, welche sie unwahrscheinlich erscheinen lassen oder zweifelsfreie Kenntnis von der Unmöglichkeit der For...