Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
I. Vorbemerkung
Rz. 1
Die Bilanz ist ein Zahlenwerk. Sie bildet wirtschaftliche Sachverhalte als Bilanzpositionen ab. Sind am Bilanzstichtag nicht nur liquide Mittel vorhanden, müssen diese mit einem Geldbetrag bewertet werden. Das Bilanzrecht regelt, welche wirtschaftlichen Sachverhalte in der Rechnungslegung auszuweisen und wie sie zu bewerten sind. Großfeld/Luttermann bezeichnen das Bilanzrecht als den "Kern von Unternehmensrecht, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht". Der mit dem Bilanzrecht oftmals wenig vertraute Jurist wird sich fragen, worauf dieser anscheinend hohe Stellenwert begründet ist. Eine erste allgemeine Antwort lautet: Die Rechnungslegung soll im Interesse einzelner Kapitalgeber und Gläubiger in Bezug auf Dispositionsentscheidungen, im Interesse des Unternehmens selbst in Bezug auf Führungs- und Kontrollentscheidungen und im Interesse eines institutionellen Gläubigerschutzes Auskunft und Rechenschaft darüber geben, wo das Unternehmen steht. Diese Kenntnis bildet die Grundlage für eine verantwortungsbewusste Tätigkeit im Unternehmen sowie für eine eben solche Zusammenarbeit zwischen Kapitalgebern und Gläubigern mit dem Unternehmen.
Rz. 2
Rechnungslegungsrecht ist Schutzrecht, d.h. der Gesetzgeber verfolgt mit bilanzrechtlichen Vorschriften bestimmte Schutzfunktionen. Daraus folgt zum einen, dass Rechnungslegungsrecht unabhängig von dem wenig zielführenden Streit um dessen Rechtsnatur zwingendes Recht ist, soweit nicht in Form von Wahlrechten Einzelfragen zur Disposition gestellt sind. Zum anderen führt der Gesetzgeber in den Rechnungslegungsnormen einen Interessenausgleich durch, der sich darin äußert, dass die unterschiedlichen Interessen zu entsprechenden Differenzierungen in den Rechnungslegungsnormen führen. Namentlich bedingen unterschiedliche Bilanzierungszwecke unterschiedliche Bewertungen, abgesehen davon, dass es einen objektiven, "wahren" Wert ohnehin nicht gibt. Eine vorrangig an Informationszwecken ausgerichtete Rechnungslegung (Anlegerschutz) wird zu anderen Ergebnissen (Werten) führen als eine an der Ausschüttungsbemessung ausgerichtete Rechnungslegung (Gläubigerschutz). Das deutsche Handelsbilanzrecht der §§ 238 ff. HGB ist traditionell vom Vorsichtsprinzip geprägt. Ein ordentlicher Kaufmann rechnet sich nach traditionellem Verständnis "eher ärmer als reicher".
Rz. 3
Auf den internationalen Kapitalmärkten geht es demgegenüber vorrangig um (international vergleichbare) marktwertorientierte Transparenz und Information der Kapitalanleger, aus Sicht des Unternehmens steht der effektive Zugang zu den internationalen Finanzmärkten (Börsen, Anleihemärkten) im Vordergrund. Deswegen orientieren sich internationale Rechnungslegungsvorschriften nicht am Vorsichtsprinzip i.S.e. Fundamentalprinzips, sondern an einer sog. fair presentation der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ("true and fair view"). Die rechtspolitische Diskussion über eine Änderung der geltenden Bilanzierungsvorschriften des Einzelabschlusses (§§ 238 ff. HGB) unter dem Schlagwort eines Übergangs vom institutionellen zum informationellen Gläubigerschutz mit weitreichenden Konsequenzen im (Kapital-)Gesellschaftsrecht und der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung hat dazu geführt, dass durch das BilMoG (näher Rdn 53) bereits einige Elemente des institutionellen Gläubigerschutzes in das HGB eingeführt wurden. Genannt seien etwa die Abkehr von der umgekehrten Maßgeblichkeit (s. Rdn 130, 240) und die neuen Ansatz- (dazu Rdn 131 ff.) und Bewertungsregeln (dazu Rdn 187 ff.). Doch auch abgesehen davon wird weiter darum gerungen, einen Paradigmenwechsel vom Vorsichts- zum Transparenzprinzip vorzunehmen, indem aus § 264 Abs. 2 HGB ein vorrangiges Leitprinzip der Redlichkeit im Sinne angloamerikanischen Verständnisses ("true and fair view") hergeleitet und die Norm als allgemeines Prinzip, d.h. als Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung, i.S.e. Ausprägung des § 243 Abs. 1 HGB interpretiert wird.
Hinweis
Bei der gesamten Diskussion ist nicht zuletzt zu beachten, dass § 264 Abs. 2 HGB richtlinienkonform ausgelegt werden muss (dazu u. Rdn 91), sodass letztlich der EuGH die Frage entscheiden wird. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass quasi "durch die Hintertür" das angelsächsische Verständnis Eingang in das deutsche Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften findet.