Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
Rz. 157
Rückstellungen mit Verbindlichkeitscharakter sind Drittverpflichtungen, die dem Grunde und/oder der Höhe nach ungewiss sind. Sie setzen eine Schuldner-Gläubiger-Beziehung voraus, sodass unternehmensinterner "Aufwand gegen sich selbst" mangels Schuldcharakter auszugrenzen ist. Im Einzelfall kann sich der Schuldcharakter einer am Bilanzstichtag bestehenden Belastung aus einem vertraglichen oder gesetzlichen Schuldverhältnis ergeben, wobei die Person des Gläubigers nicht bekannt sein muss (z.B. im Fall der Produzentenhaftung), oder aus öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen (z.B. Steuern, Jahresabschlusskosten). Nach der jüngst bestätigten Rspr. des BFH kann jedoch auch bei bestehenden Außenverpflichtungen die Bildung einer Rückstellung abzulehnen sein, wenn nach Abwägung der Interessen der Vertragsparteien ein "eigenbetriebliches Interesse“ des Bilanzierenden die wirtschaftliche Belastung durch die Verbindlichkeit "vollständig überlagert". Diese zusätzliche Negativkriterium wird von der Lit. überwiegend abgelehnt, insbesondere wegen eines Verstoß gegen das Vollständigkeitsgebot des § 246 HGB. Stattdessen soll das Bestehen einer Drittverpflichtung als eigenständiges objektives Kriterium für die Rückstellungsbildung genügen, ohne Wertungselement durch die Betrachtung der subjektiven Parteiinteressen."
Rz. 158
Ungereimtheiten herrschen im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Kenntnis des Gläubigers bzgl. seines Anspruchs. Nach Ansicht des BFH ist bei Schadensersatz- und Beseitigungsansprüchen eine Inanspruchnahme des Schuldners erst dann wahrscheinlich und damit rückstellungsfähig, wenn die den Anspruch begründenden Tatsachen entdeckt und dem Geschädigten bekannt geworden sind oder dies doch unmittelbar bevorsteht. Für vertragliche Verbindlichkeiten kommt demgegenüber der Kenntnis des Gläubigers keine eigenständige Bedeutung zu. Dies beruht wohl darauf, dass bei jenen davon auszugehen ist, dass der Vertragspartner seine Rechte kennt und zu gegebener Zeit davon Gebrauch machen wird.
Rz. 159
Noch enger sieht der BFH die Rückstellungsbildung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, namentlich öffentlich-rechtlichen Lasten (z.B. Umweltschutzverpflichtungen). Eine Grundlage für die Bildung einer Rückstellung hält der BFH nur dann für gegeben, wenn ein Gesetz oder eine Verfügung (Verwaltungsakt) der zuständigen Behörde ein inhaltlich genau bestimmtes Handeln innerhalb eines bestimmten Zeitraumes vorschreibt und wenn an die Verletzung der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung Sanktionen geknüpft sind, sodass sich das Unternehmen der Erfüllung der Verpflichtung tatsächlich nicht entziehen kann.
Allerdings ist der Fragenkomplex nicht abschließend geklärt. So vertritt der I. Senat des BFH eine strikte Anbindung an das Vorsichtsprinzip und verlangt zwingend eine Rückstellungsbildung, wenn die Verwaltungsbehörde von einer Schadstoffbelastung Kenntnis hat und der polizeirechtliche Störer ernsthaft mit einer Inanspruchnahme aus seiner ihn treffenden öffentlich-rechtlichen Verpflichtung rechnen muss. In einer weiteren Entscheidung geht der I. Senat des BFH davon aus, dass sich eine Passivierung auch schon aus einer hinreichend konkretisierten Rechtsnorm ergeben könne. Deshalb hat der BFH die Rückstellung für eine Abbruchverpflichtung für den Fall bejaht, in dem ungewiss war, zu welchem Zeitpunkt das Nutzungsverhältnis enden werde. Enthält die öffentlich-rechtliche Verpflichtung eine Frist zur Umsetzung, darf vor Ablauf dieser Frist in Ermangelung der rechtlichen und wirtschaftlichen Entstehung der Verpflichtung keine Rückstellung gebildet werden.
Rz. 160
Für die Bildung einer Verbindlichkeitsrückstellung kommt es nicht zwingend auf das Bestehen eines rechtlich durchsetzbaren und einklagbaren Anspruchs gegen den Bilanzierenden an. Entscheidend ist vielmehr, dass der Verpflichtete zum Bilanzstichtag ernsthaft mit dem Bestehen oder Entstehen einer Schuld rechnen muss, die durch die Geschäftsvorfälle des abgelaufenen Wirtschaftsjahres verursacht worden ist. Zu den Verbindlichkeiten i.S.d. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB werden auch faktische und nicht einklagbare Verpflichtungen gezählt, denen sich das Unternehmen nicht entziehen kann. Einen Sonderfall der Fallgruppe "Faktische Verpflichtung" bilden die in § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HGB erwähnten Rückstellungen für Gewährleistungen ohne rechtliche Verpflichtung. Die Passivierungspflicht für Kulanzleistungen ist nicht frei von Bedenken, da es i.d.R. um Kundenpflege oder Ähnliches geht, die auf zukünftige Geschäftsbeziehungen ausgerichtet ist.
Rz. 161
Die ungewisse Verbindlichkeit muss am Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht sein. Dies setzt voraus, dass die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale für das Entstehen der Verbindlichkeit bereits am Bilanzstichtag erfüllt sind und das wirtschaftliche Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmalen abhängt. Des Weiteren ...