Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
(1) Steuerwirkung der Gewerbesteueranrechnung
Rz. 290
Die pauschalisierte Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer nach § 35 EStG verfolgt zwei Ziele. Zum einen sollen Unternehmer mit Einkünften aus Gewerbebetrieb annähernd gleich belastet werden wie nicht gewerbliche Unternehmer. Zum anderen soll ein typisierender Beitrag zur Rechtsformneutralität geleistet werden. Durch die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 % käme es ohne Anrechnung der Gewerbesteuer insoweit zu einer erheblichen Steuerbegünstigung von Kapitalgesellschaften im Vergleich zu Einzelunternehmern und Personengesellschaften.
Rz. 291
Die Gewerbesteuer führt zu einer Sonderbelastung der Bezieher von Einkünften aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG). Im Beschluss zu § 32c EStG a.F. vom 21.6.2006 hat das BVerfG gebilligt, dass der Gesetzgeber der Zusatzbelastung mit Gewerbesteuer durch eine einkommensteuerliche Entlastung Rechnung trägt. Die Erhebung der Gewerbesteuer begrenzt auf die Einkünfte aus Gewerbebetrieb ist insoweit verfassungskonform.
Rz. 292
Die Gewerbesteueranrechnung beträgt grds. das 4-fache des Gewerbesteuermessbetrags. Die Gewerbesteueranrechnung ist – was steuerpolitisch fragwürdig ist – auf die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuerschuld (§§ 35 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. Abs. 4 EStG) begrenzt. Dies führt dazu, dass Unternehmer, die ihr Einzelunternehmen oder die Personengesellschaft an Standorten ansiedeln, die einen günstigen Gewerbesteuerhebesatz (z.B. 300 %) aufweisen, letztlich keinen Vorteil aus dem niedrigen Gewerbesteuerhebesatz haben. Die steuerliche Gesamtbelastung bleibt mind. in Höhe der regulären Einkommensteuerbelastung bestehen. Der Anreiz, Unternehmen in Gemeinden mit niedrigen Gewerbesteuerhebesätzen anzusiedeln, entfällt.
(2) Strukturelle Elemente der Steuerermäßigung
Rz. 293
Im Rahmen des § 35 EStG kommt es wegen der in Deutschland regelmäßig anzutreffenden Hebesätze vielfach zu "Überhängen" nicht anrechenbarer Steuerermäßigungsbeträge. § 35 EStG gewährt nur eine Steuerbetragsermäßigung und keine Anrechnung der Gewerbesteuer i.S.d. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, obwohl die Vorschrift immer als "pauschalierte Gewerbesteueranrechnung" bezeichnet wird. Ein nach § 35 EStG ermittelter Steuerermäßigungsbetrag ist von der tariflichen Einkommensteuer nach § 2 Abs. 5 EStG abzuziehen. Nach Abzug des Steuerermäßigungsbetrages ergibt sich die festzusetzende Einkommensteuer nach § 2 Abs. 6 EStG. Um eine Steuerentlastungswirkung entfalten zu können, setzt § 35 EStG im Gegensatz zu einer anzurechnenden Steuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG (die ggf. zu erstatten wäre) daher voraus, dass überhaupt tarifliche Einkommensteuer festzusetzen ist. Die Entlastungswirkung verpufft, wenn die festzusetzende tarifliche Einkommensteuer vor Abzug des Steuerermäßigungsbetrages niedriger als der Steuerermäßigungsbetrag ist. Der in einem Veranlagungszeitraum nicht auf die Einkommensteuer "anrechenbare Betrag" kann weder vor- noch zurückgetragen noch erstattet werden, sodass die Gewerbesteuerbelastung in diesem Fall definitiv wird. Der BFH hat in zwei Entscheidungen bestätigt, dass der Verfall des gewerbesteuerlichen Entlastungsvolumens verfassungsgemäß ist.
Rz. 294
Dem Entlastungsmechanismus des § 35 EStG, der an das "zu versteuernde Einkommen" i.S.d. Vorschrift anknüpft, haften damit Verzerrungswirkungen durch persönliche Verhältnisse der Steuerpflichtigen und eine "Streubreite" der Entlastungswirkung innerhalb der Gruppe der Gewerbetreibenden an. Trotz einer gleichen Belastung mit Gewerbesteuer (bei einem festgesetzten Gewerbesteuermessbetrag in gleicher Höhe für alle Gewerbetreibenden der Vergleichsgruppe) kommen manche Gewerbetreibende in den Genuss der vollen Steuerermäßigung, bei anderen geht die Entlastung ganz oder teilweise ins Leere.
(3) Grundstruktur des Entlastungsmechanismus
Rz. 295
Die Steuerermäßigung nach § 35 EStG steht nur natürlichen Personen offen, die Einkünfte aus § 15 EStG beziehen. Sie gilt für unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtige. § 35 EStG ist seit dem VZ 2001 anzuwenden. Aktuelles Anwendungsschreiben ist das BMF-Schreiben vom 3.11.2016, welches durch das BMF-Schreiben vom 17.4.2019 teilweise angepasst wurde. Zur Ermittlung der maximalen einkommensteuerlichen Ermäßigung (des "Ermäßigungshöchstbetrages") werden nach § 35 Abs. 1 Satz 2 EStG in einer Verhältnisrechnung "positive gewerbliche Einkünfte“" ins Verhältnis zur "Summe der positiven Einkünfte" gesetzt, um den Anteil der tariflichen ...