Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
aa) Systematik
Rz. 155
Rückstellungen werden zwischen Eigenkapital und Verbindlichkeiten eingeordnet (vgl. § 266 Abs. 3 HGB). Ihr theoretisches Verständnis ist davon geprägt, ob man der statischen oder dynamischen Bilanzauffassung zuneigt. Nach statischer Auffassung dienen Rückstellungen der zutreffenden Erfassung (rechtlicher) Verbindlichkeiten, während die dynamische Auffassung darauf abzielt, spätere Aufwendungen in die Periode ihrer Verursachung einzurechnen. Der unterschiedliche theoretische Ansatz hat Konsequenzen im Hinblick auf die Bedeutung einer wirtschaftlichen Verursachung für die Rückstellungsbildung (zur Anwendbarkeit des Realisationsprinzips o. Rdn 101, 103). Im Ausgangspunkt ist jedoch vom Katalog des § 249 HGB auszugehen, dessen kleinster gemeinsamer Nenner darin besteht, dass Passivposten zur Berücksichtigung künftig anfallender Aufwendungen gebildet werden müssen, obwohl Grund und/oder Höhe dieser Posten ungewiss sind. Materiell geht es demnach um eine Ausprägung des Imparitätsprinzips.
Rz. 156
§ 249 HGB regelt Rückstellungen mit Verbindlichkeitscharakter und Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften. Die bisher bestehende Möglichkeit der Bildung von Rückstellungen ohne Verbindlichkeitscharakter (sog. Aufwandsrückstellungen) hat der Gesetzgeber abgeschafft (näher u. Rdn 165). Die Bildung von Aufwandsrückstellungen i.S.d. § 249 Abs. 2 HGB a.F. ist damit nicht mehr zulässig.
bb) Rückstellungen mit Verbindlichkeitscharakter
Rz. 157
Rückstellungen mit Verbindlichkeitscharakter sind Drittverpflichtungen, die dem Grunde und/oder der Höhe nach ungewiss sind. Sie setzen eine Schuldner-Gläubiger-Beziehung voraus, sodass unternehmensinterner "Aufwand gegen sich selbst" mangels Schuldcharakter auszugrenzen ist. Im Einzelfall kann sich der Schuldcharakter einer am Bilanzstichtag bestehenden Belastung aus einem vertraglichen oder gesetzlichen Schuldverhältnis ergeben, wobei die Person des Gläubigers nicht bekannt sein muss (z.B. im Fall der Produzentenhaftung), oder aus öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen (z.B. Steuern, Jahresabschlusskosten). Nach der jüngst bestätigten Rspr. des BFH kann jedoch auch bei bestehenden Außenverpflichtungen die Bildung einer Rückstellung abzulehnen sein, wenn nach Abwägung der Interessen der Vertragsparteien ein "eigenbetriebliches Interesse“ des Bilanzierenden die wirtschaftliche Belastung durch die Verbindlichkeit "vollständig überlagert". Diese zusätzliche Negativkriterium wird von der Lit. überwiegend abgelehnt, insbesondere wegen eines Verstoß gegen das Vollständigkeitsgebot des § 246 HGB. Stattdessen soll das Bestehen einer Drittverpflichtung als eigenständiges objektives Kriterium für die Rückstellungsbildung genügen, ohne Wertungselement durch die Betrachtung der subjektiven Parteiinteressen."
Rz. 158
Ungereimtheiten herrschen im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Kenntnis des Gläubigers bzgl. seines Anspruchs. Nach Ansicht des BFH ist bei Schadensersatz- und Beseitigungsansprüchen eine Inanspruchnahme des Schuldners erst dann wahrscheinlich und damit rückstellungsfähig, wenn die den Anspruch begründenden Tatsachen entdeckt und dem Geschädigten bekannt geworden sind oder dies doch unmittelbar bevorsteht. Für vertragliche Verbindlichkeiten kommt demgegenüber der Kenntnis des Gläubigers keine eigenständige Bedeutung zu. Dies beruht wohl darauf, dass bei jenen davon auszugehen ist, dass der Vertragspartner seine Rechte kennt und zu gegebener Zeit davon Gebrauch machen wird.
Rz. 159
Noch enger sieht der BFH die Rückstellungsbildung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, namentlich öffentlich-rechtlichen Lasten (z.B. Umweltschutzverpflichtungen). Eine Grundlage für die Bildung einer Rückstellung hält der BFH nur dann für gegeben, wenn ein Gesetz oder eine Verfügung (Verwaltungsakt) der zuständigen Behörde ein inhaltlich genau bestimmtes Handeln innerhalb eines bestimmten Zeitraumes vorschreibt und wenn an die Verletzung der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung Sanktionen geknüpft sind, sodass sich das Unternehmen der Erfüllung der Verpflichtung tatsächlich nicht entziehen kann.
Allerdings ist der Fragenkomplex nicht abschließend geklärt. So vertritt der I. Senat des BFH eine strikte Anbindung an das Vorsichtsprinzip und verlangt zwingend eine Rückstellungsbildung, wenn die Verwaltungsbehörde von einer Schadstoffbelastung Kenntnis hat und der polizeirechtliche Störer ernsthaft mit einer Inanspruchnahme aus seiner ihn treffenden öffentlich-rechtlichen Verpflichtung rechnen muss. In einer weiteren Entscheidung geht der I. Senat des BFH davon aus, dass sich eine Passivierung auch schon aus einer hinreichend konkretisierten Rechtsnorm ergeben könne. Deshalb hat der BFH die Rückstellung für eine Abbruchverpflichtung für den Fall bejaht, in dem ungewiss war, zu welchem Zeitpunkt das Nutzungsverhältnis enden werde. Enthält die öffentlich-rechtliche Verpflichtung eine Frist zur Umsetzung, d...