Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
1. Jahresabschluss und Gesellschaftsrecht
a) AG
aa) Mitgliedschaftlicher Bilanzgewinnanspruch
Rz. 18
Nach § 58 Abs. 4 Satz 1 AktG haben die Aktionäre Anspruch auf den Bilanzgewinn, soweit er nicht nach Gesetz oder Satzung, durch einen abweichenden Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung oder als zusätzlicher Aufwand aufgrund des Gewinnverwendungsbeschlusses von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen ist. Der Bilanzgewinn bzw. Bilanzverlust ist gem. § 158 Abs. 1 AktG aus dem Jahresüberschuss zu entwickeln.
Rz. 19
Der Jahresüberschuss bildet die Ausgangsgröße, die durch Gewinnvorträge und/oder Entnahmen aus der Kapitalrücklage oder aus Gewinnrücklagen erhöht bzw. durch Verlustvorträge und/oder Einstellungen in die Gewinnrücklagen vermindert wird. Jahresüberschuss ist der Betrag, der in der GuV-Rechnung (dazu u. Rdn 205 f.) gem. § 275 Abs. 2 Nr. 17 HGB als Posten 17 (Gesamtkostenverfahren) bzw. gem. § 275 Abs. 3 Nr. 16 HGB als Posten 16 (Umsatzkostenverfahren) auszuweisen ist und somit den Saldo aller in der GuV-Rechnung ausgewiesenen Erträge und Aufwendungen vor Steuern ausmacht (vgl. § 275 Abs. 2 und Abs. 3 HGB). Führt dies zu einem negativen Saldo, spricht man von einem Jahresfehlbetrag.
Rz. 20
Der maßgebliche Jahresüberschuss ergibt sich aus dem Jahresabschluss, der gem. § 264 Abs. 1 HGB i.V.m. §§ 78 Abs. 1, 170 Abs. 1 AktG vom Vorstand der AG aufgestellt und im Regelfall vom Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam festgestellt wird (§ 172 Satz 1 Halbs. 1 AktG). Unter Aufstellung des Jahresabschlusses wird die Übernahme der Zahlen aus der Buchhaltung unter Durchführung von Abschlussbuchungen verstanden, der mit einer (vorläufigen) Bilanz endet. Die Aufstellung beinhaltet Vorschläge zu bilanzpolitischen Entscheidungen wie die Auflösung von Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechten oder die Bildung und Auflösung von Rücklagen. Unter Feststellung versteht man die Billigung der Bilanz durch die Verwaltung mit der Folge der Verbindlichkeit für Gesellschaft und Aktionäre. Die Aufstellung des Jahresabschlusses ist somit Vorbereitungshandlung für die Feststellung als konstitutiver Akt.
Rz. 21
Der Aufsichtsrat hat den Jahresabschluss zu prüfen. Im Ausnahmefall ist der Jahresabschluss durch die Jahreshauptversammlung festzustellen, soweit der Aufsichtsrat erklärt, er billige den Jahresabschluss nicht (§§ 171 Abs. 2 Satz 4, 173 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AktG), oder soweit Vorstand und Aufsichtsrat – trotz Billigung – beschlossen haben, die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung zu überlassen (§§ 172 Satz 1 Halbs. 2, 173 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AktG). Für den Regelfall der gemeinsamen Feststellung durch die Verwaltung (§ 172 AktG) können Vorstand und Aufsichtsrat ohne gesonderte Ermächtigung durch die Satzung bis zur Hälfte des Jahresüberschusses in andere Gewinnrücklagen einstellen (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AktG), soweit die Satzung keine abweichende Regelung erlaubt (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2, 3 AktG).
Rz. 22
§ 58 Abs. 4 AktG regelt den mitgliedschaftlichen Gewinnanspruch im Unterschied zum konkreten Zahlungsanspruch, der erst mit Wirksamwerden des auf Zahlung von Dividenden gerichteten Gewinnverwendungsbeschlusses entsteht. Der mitgliedschaftliche Gewinnanspruch des § 58 Abs. 4 AktG hat demgegenüber seine Rechtsgrundlage in der Mitgliedschaft des Aktionärs und entsteht bereits mit Feststellung des Jahresabschlusses, der einen Bilanzgewinn ausweist. Die Aktionäre können in dem in der Hauptversammlung zu fassenden Gewinnverwendungsbeschluss entweder die Ausschüttung des Bilanzgewinnes als Regelfall oder auch weitere Zuweisungen in Gewinnrücklagen vornehmen bzw. den Gewinn vortragen (§ 58 Abs. 3 Satz 1 AktG). Dies hat zur Konsequenz, dass die Mehrheit der Hauptversammlung in den Grenzen des § 254 AktG Gewinnausschüttungen auch vollständig verhindern kann.
Rz. 23
Die Feststellung des Jahresabschlusses ist für die Aktionäre verbindlich (§ 174 Abs. 1 Satz 2 AktG). Sie hat zur Folge, dass sowohl die vom Vorstand getroffenen finanzpolitischen Maßnahmen als auch die Rücklagenbildung bzw. -auflösung wirksam werden. Soweit die Verwaltung von ihrer gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch macht, Teile des Jahresüberschusses begrenzt auf max. die Hälfte desselben in andere Gewinnrücklagen einzustellen, hat sie in eigener Verantwortung zu entscheiden.
Rz. 24
Gem. § 245 Nr. 1 AktG hat jeder Aktionär das Recht, Beschlüsse der Hauptversammlung, wozu neben dem Feststellungsbeschluss auch der Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns gehört, anzufechten. Ein möglicher Anfechtungsgrund gründet sich im Hinblick auf die Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns auf die Rechnungslegungsvorschriften des HGB. Deshalb stehen dem Aktionär neben der Einsichtsmöglichkeit (§ 175 Abs. 2 AktG) in den Jahresabschluss auch Auskunftsansprüche in der Hauptversammlung zu (§ 131 Abs. 1, 3 Nr. 4, 4 AktG). Diese eröffnen dem Aktionär die Möglichkeit, Ermessensfehler bei der Ausübung bilanzieller Wahlrechte und die schlüssige Anwendung von Beurteilungsspielräumen durch die Verwaltung überprüfen zu können.