Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
Rz. 169
Der Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG erfährt für die steuerbilanzrechtliche Gewinnermittlung eine Vielzahl von Durchbrechungen (dazu u. Rdn 233 ff.). Deshalb können die Bilanzansätze in der Handels- und Steuerbilanz voneinander abweichen, sodass das handelsrechtliche Ergebnis und der steuerrechtliche Gewinn unterschiedlich hoch ausfallen. Dies hat seinen Grund insb. in vorübergehenden Ansatz- und Bewertungsdifferenzen zwischen den in Handels- und Steuerbilanz ausgewiesenen Vermögensgegenständen und Schulden. Dem trägt die grundlegende Neufassung des § 274 HGB Rechnung. Die Vorschrift richtet sich nach dem in der internationalen Rechnungslegungspraxis verbreiteten bilanzorientierten und insoweit eher statischen Temporary-Konzept und nicht mehr nach dem GuV-orientierten (dynamischen) Timing-Konzept. Zweck der Bilanzierung latenter Steuern ist demnach die zutreffende Darstellung der Vermögenslage und nicht mehr primär der periodengerechte Ausweis des Steueraufwandes. Das Temporary-Konzept führt namentlich dazu, dass auch sog. quasi-permanent befristete Differenzen (z.B. abweichende Buchwerte des nicht abnutzbaren Vermögens wie Grund und Boden oder Beteiligungen) zu berücksichtigen sind. Quasi-permanente Differenzen kehren sich erst bei Liquidation des Unternehmens um oder bedürfen zu ihrer Umkehrung einer unternehmerischen Disposition (z.B. Veräußerung des Vermögensgegenstandes). Nach dem bilanzorientierten Temporary-Konzept werden damit auch die erfolgsneutral direkt im Eigenkapital erfassten Abweichungen erfasst. Demgegenüber sind permanente Differenzen, also Differenzen, die selbst bei Aufgabe des Unternehmens und der Vornahme der Liquidationsbesteuerung nicht ausgeglichen werden (z.B. nicht abzugsfähige Betriebsausgaben), nach wie vor nicht in die Bilanzierung latenter Steuern einzubeziehen.
Im Ausgangspunkt ist zwischen einer sog. aktiven und passiven Steuerabgrenzung (aktiven und passiven latenten Steuer) zu unterscheiden.
Entstehung Latenter Steuern
Rz. 170
Eine passive Differenz ist gegeben, wenn Vermögensgegenstände (Schulden) in der Handelsbilanz mit einem höheren (niedrigeren) Wert angesetzt werden als in der Steuerbilanz oder wenn der Ansatz von Vermögensgegenständen (Schulden) nur in der Handelsbilanz (Steuerbilanz) erfolgt. Das steuerbilanzielle Aufwandspotenzial ist niedriger als das handelsrechtliche Aufwandspotenzial. Zum Zeitpunkt der Auflösung der Differenz werden deshalb die steuerrechtlichen Ergebnisse ceteris paribus höher sein als ihr handelsrechtliches Gegenstück. Auf die bilanzielle Erfassung des daraus resultierenden latenten Steuernachteils zielen die passiven latenten Steuern ab. I.H.d. daraus resultierenden latenten Steuermehrbelastung ist eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Insoweit besteht in der Ansatzfrage latenter Steuern kein materiell bedeutsamer Unterschied zum bisher geltenden Recht. Allerdings hat die Zahl der Anwendungsfälle passiver latenter Steuern im Einzelabschluss deutlich zugenommen. Dies beruht zum einen auf der Abschaffung der sog. umgekehrten und formellen Maßgeblichkeit einschl. der Sonderposten mit Rücklageanteil, die in vielen Fällen zu unterschiedlichen Bewertungen von Vermögensgegenständen führen wird. Ein weiterer Punkt sind die unterschiedlichen Bewertungen zwischen Handels- und Steuerbilanz im Bereich der Rückstellungen. Schließlich können sich Differenzen ergeben, wenn die Herstellungskosten für selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens in der Handelsbilanz aktiviert werden, was steuerrechtlich nicht möglich ist.
Eine Befreiung von der Pflicht, (passive) latente Steuern auszuweisen, ist für kleine Kapitalgesellschaften gegeben (§ 274a Nr. 4 HGB), aber nur insoweit, als sie keinen Rückstellungscharakter aufweisen.
Hinweis
Regelmäßig wird bereits nach allgemeinen Grundsätzen eine Steuerrückstellung zu bilden sein. Um § 274 Abs. 1 HGB ggü. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB einen eigenständigen Anwendungsbereich zu eröffnen und die Vorschrift nicht als schlichte Rechtsgrundverweisung zu interpretieren, soll eine passive Steuerabgrenzung auch dann vorzunehmen sein, wenn eine rückstellungsfähige Verbindlichkeit nicht zugleich entstanden ist.
Beispiel
Die X-GmbH (Gesamtsteuerbelastung: 30 %) hat einen handelsrechtlichen Jahresüberschuss von 1 Mio. EUR erzielt. Bilanzansatz- und Bewertungsdifferenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz sollen (idealtypisch) nicht bestehen. Allerdings möchte die X-GmbH die Herstellungskosten für ein Patent i.H.v. 500.000,00 EUR aktivieren.
In Folge der Aktivierung der Herstellungskosten gem. §§ 248 Abs. 2, 255 Abs. 2a HGB ergibt sich in der Handelsbilanz eine Bilanzansatzdifferenz von 500.000,00 EUR, die für das steuerliche Ergebnis wegen § 5 Abs. 2 EStG nicht nachvollzogen wird. Damit ist das steuerliche Aufwandspotenzial niedriger als dasjenige in der Handelsbilanz. Deshalb ist bei einem Steuersatz von 30 % eine Rückstellung für latente Steuern i.H.v. 150.000,00 EUR z...