Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 159
In der zweiten Stufe ist zu entscheiden, ob das alleinige Sorgerecht dem antragsstellenden Elternteil im Interesse des Kindeswohls zu übertragen ist. Dies gilt auch bei Zustimmung des anderen Elternteils zur Sorgeübertragung, da hier das Kindeswohl natürlich der Dispositionsbefugnis der Eltern vorgeht.
Kann aufgrund der gegebenen Verhältnisse wegen einer zu befürchtenden Kindeswohlgefährdung auch dem antragstellenden Elternteil das Sorgerecht nicht übertragen werden, muss nach § 1671 Abs. 3 BGB von Amts wegen eine Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB ergehen.
Dabei stehen sämtliche Kriterien der Kindeswohlprüfung nicht kumulativ nebeneinander, sondern jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Prüfung des Kindeswohls sein.
Hierbei kommt es in der Praxis meist darauf an, die Kontinuität der Betreuung und Erziehung sicherzustellen.
Rz. 160
Auch ist von Bedeutung, welcher Elternteil das Kind in seiner zukünftigen Entwicklung besser fördern kann. Nach dem Förderungsprinzip ist die elterliche Sorge dem Elternteil zu übertragen, der am besten zur Erziehung und Betreuung des Kindes geeignet erscheint und von dem es vermutlich die meiste Unterstützung für den Aufbau seiner Persönlichkeit erwarten kann. Zur Beurteilung der Förderfähigkeit können die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Elternteils wesentliches Gewicht erlangen, wenn bei ihm die ökonomischen Mindeststandards nicht gewährleistet sind oder wegen ungesicherter wirtschaftlicher Situation die Instabilität seiner Lebensverhältnisse zu befürchten ist.
Rz. 161
Die Fähigkeit zu kooperativem Verhalten äußert sich in erster Linie darin, dass Eltern in der Lage sind, persönliche Interessen und Differenzen zurückzustellen. Dazu gehört es, den anderen Elternteil als Erzieher und gleichwertigen Bindungspartner des Kindes zu respektieren sowie ein Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten über die Grundentscheidungen wie den persönlichen Umgang des Kindes mit dem nicht betreuenden Elternteil.
Rz. 162
Ganz wesentlich ist daher auch, welcher der beiden Elternteile die bessere Bindungstoleranz aufweist, also die Bereitschaft und Fähigkeit, den Kontakt des Kindes zum anderen Elternteil zu unterstützen. Hierbei sind auch die Bindungen des Kindes an eventuelle Geschwister zu beachten. Missbraucht der betreuende Elternteil dagegen seine Funktion als betreuender Elternteil dazu, die Kinder von dem anderen Elternteil zu entfremden, spricht das gegen seine Erziehungsfähigkeit.
Rz. 163
Praxistipp:
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Auch der anwaltliche Berater sollte dem Elternteil, bei dem sich das Kind befindet, möglichst frühzeitig eindringlich und nachhaltig deutlich machen, Besuchskontakte zum anderen Elternteil nicht nur zu billigen, sondern aktiv zu fördern. |
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Dabei sollte auch klargestellt werden, dass gelegentliche emotional bedingte Zwistigkeiten, die bei Umgangskontakten immer wieder einmal auftreten, nicht hochgeschaukelt werden sollten und vor allem nicht zum Anlass genommen werden sollten, Umgangskontakte zu verhindern. |
Rz. 164
Die Bindungen des Kindes an die Elternteile und ggf. Geschwister sind zu beachten.
Gerade bei älteren Kindern ist auch deren geäußerter Wille maßgeblich, soweit das Kind nach Alter und Reife zu einer verantwortlichen Willensbildung in der Lage ist. Die Anhörung des Kindes im gerichtlichen Verfahren ist nach § 158 FamFG geboten. Dabei ist klar, dass der Wille des Kindes bewusst oder unbewusst beeinflusst oder gar manipuliert werden kann, deshalb nicht immer sachgerecht ist und folglich keinesfalls als "heiliger Grundsatz" über dem gesamten Verfahren schwebt. Die Praxis zeigt, dass der Wille des Kindes manchen Elternteilen nur dann "heilig" ist, wenn er sich mit dem eigenen Willen und den im Verfahren verfolgten persönlichen – und manchmal eigensüchtigen – Interessen deckt. Die Beachtlichkeit des Kindeswillens bedeutet also nicht, dass Entscheidungskompetenz und -verantwortung auf das Kind "abgewälzt" werden. Der geäußerte Kindeswille bleibt ein Gesichtspunkt im Rahmen des übergeordneten Entscheidungsmaßstabs des Kindeswohles.