Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 107
Nach § 78 Abs. 2 FamFG ist die Beiordnung eines Anwaltes in Kindschaftsverfahren (Sorge- und Umgangsrecht) nicht zwingend vorgeschrieben.
Der BGH hat sich zur Frage der Anwaltsbeiordnung in Kindschaftsverfahren geäußert durch Beschl. v. 23.6.2010 – XII ZB 232/09 mit folgenden Leitsätzen:
Zitat
1. |
Ist eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, ist dem Beteiligten im Rahmen der bewilligten Verfahrenskostenhilfe ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich ist. Entscheidend ist dabei, ob ein bemittelter Rechtssuchender in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. |
2. |
Die gebotene einzelfallbezogene Prüfung lässt eine Herausbildung von Regeln, nach denen der mittellosen Partei für bestimmte Verfahren immer oder grundsätzlich ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, regelmäßig nicht zu. Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ist nach der gebotenen individuellen Bemessung deswegen nicht mit dem Gesetz vereinbar. |
3. |
Das Verfahren kann sich für einen Beteiligten auch allein wegen einer schwierigen Sachlage oder allein wegen einer schwierigen Rechtslage so kompliziert darstellen, dass auch ein bemittelter Beteiligter einen Rechtsanwalt hinzuziehen würde. Jeder der genannten Umstände kann also die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich machen. |
4. |
Die Erforderlichkeit zur Beiordnung eines Rechtsanwalts beurteilt sich auch nach den subjektiven Fähigkeiten des betroffenen Beteiligten. |
5. |
Auch wenn der Grundsatz der Waffengleichheit kein allein entscheidender Gesichtspunkt für die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe mehr ist, kann der Umstand der anwaltlichen Vertretung anderer Beteiligter ein Kriterium für die Erforderlichkeit zur Beiordnung eines Rechtsanwalts wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage sein. |
Rz. 108
Wenn nach BGH jetzt bei der Entscheidung über die Anwaltsbeiordnung auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abgestellt werden soll, ergibt sich in der Praxis die Schwierigkeit, dass sich diese weitgehend erst im Verhandlungstermin im persönlichen Gespräch mit den Beteiligten abklären lassen und – vor allem angesichts der 4-Wochen-Frist des § 155 Abs. 2 S. 2 FamFG – im Vorfeld kaum Zeit für entsprechenden Aufklärungen besteht.
Rz. 109
Entscheidend sind folgende Umstände:
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Eine schwierige Sachlage ist gegeben, wenn komplexe Sachverhalte zu klären sind. Dabei ist zu beachten, dass Beteiligte die Erheblichkeit bestimmter Umstände möglicherweise nicht erkennen und dann auch nicht in das Verfahren einbringen können. |
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Um schwierige Rechtsfragen kann es sich auch handeln, wenn kontrovers beurteilte Rechtsfragen noch nicht höchstrichterlich entschieden. Nicht ausreichend dürften hingegen weitere Rechtsfolgen sein, die sich erst mittelbar aus dem Verfahren ergeben. |
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Einschränkungen subjektiver Natur, wenn sich ein Beteiligter nicht selbst ausreichend an dem Verfahren beteiligen kann – z.B. bei Verständigungsschwierigkeiten mangels ausreichender Sprachkenntnisse oder geistiger Beeinträchtigung. |
Rz. 110
Jeder dieser Gesichtspunkte kann für sich genommen oder im Zusammenwirken die Beiordnung eines Rechtsanwalts erfordern.
Nicht ausreichend ist hingegen die Schwere des Eingriffs. Diesen Aspekt hat der Gesetzgeber ausdrücklich ausgeklammert.
Auch der Gesichtspunkt der Waffengleichheit gebietet nicht die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Dieser Gesichtspunkt ist aber bei der Prüfung zusätzlich zu berücksichtigen und kann die Notwendigkeit einer Anwaltsbeiordnung rechtfertigen, zumal nach der Rechtsprechung des BVerfG auch ein deutliches Ungleichgewicht bei Kenntnisstand und Fähigkeiten der Verfahrensbeteiligten eine Beiordnung erforderlich machen kann.
Rz. 111
Praxistipp:
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Die Beteiligten haben die für eine Beiordnung sprechenden Gesichtspunkte darzulegen. |
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Dieser detaillierte Vortrag sollte gleich bei Stellung des Antrags auf VKH geschehen. |
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Es sind also gegebenenfalls auch persönliche Umstände des Antragstellers vorzutragen wie fehlende oder schlechte Sprachkenntnisse, fehlende Vorbildung, Schreibungewandtheit, Alter, Betroffenheit und geschäftliche Unerfahrenheit, um eine Anwaltsbeiordnung zu erreichen. |
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Ohne konkrete Anhaltspunkte besteht für die Gerichte kein Anlass, auf diese Frage näher einzugehen und ggf. eine weitere Aufklärung zu veranlassen. |