Rz. 91
Beispiel 31
Der Erblasser E hat im Jahre 2007 einen Betrag von umgerechnet 100.000 EUR in der Schweiz angelegt und die darauf entfallenden Kapitaleinkünfte von jährlich 5.000 EUR bis zu seinem Tod am 3.1.2017 nicht angegeben. Der Erblasser hat für sämtliche Jahre keine Einkommensteuererklärung abgegeben und wurde hierzu auch nie aufgefordert. In den Jahren 2012 bis 2015 wurde der Erblasser geschätzt, allerdings war diese Schätzung deutlich zu niedrig (lediglich 50 %). E verstirbt 2017. Die aus seinen Söhnen S und B bestehende Erbengemeinschaft findet in einem Geheimfach des Schreibtisches sämtliche Kontounterlagen des Schweizer Bankkontos mit den jährlichen Zinsgutschriften.
§ 153 Abs. 1 AO begründet eine Erklärungsberichtigungspflicht. Danach ist der Steuerpflichtige zur Berichtigung von Erklärungsfehlern verpflichtet, die ihm in seinem Besteuerungsfall unterlaufen sind. Diese Berichtigungspflicht trifft ihn allerdings dann nicht, wenn er vorsätzlich oder leichtfertig gehandelt hat. Eine derartige Pflicht würde sonst zur Selbstbelastung des Steuerpflichtigen führen und damit dem Grundsatz widerstreiten, dass niemand sich selbst belasten muss (nemo tenetur se ipsum accusare).
In Beispiel 31 wäre also der Erblasser aufgrund seiner vorsätzlichen Hinterziehung nicht gezwungen gewesen, eine Nacherklärung nach § 153 Abs. 1 AO abzugeben. Anders stellt sich dies allerdings für seine Gesamtrechtsnachfolger dar. Da diese in § 153 Abs. 1 S. 2 AO auch als Normadressaten genannt sind, wird der Anwendungsbereich insoweit auf Fälle erstreckt, in denen der verstorbene Steuerpflichtige vorsätzlich gehandelt hat. Da die Mitglieder der Erbengemeinschaft von den strafrechtlichen Vorwürfen nicht betroffen sind, entbindet sie der Nemo-Tenetur-Grundsatz auch nicht von der Berichtigungspflicht.
Rz. 92
Allerdings wurden gar keine Angaben gegenüber den Finanzbehörden vom verstorbenen Steuerpflichtigen gemacht. Da Voraussetzung der Berichtigungspflicht eine unrichtige oder unvollständige Erklärung ist, findet nach überwiegender Meinung § 153 AO insoweit keine Anwendung. Damit trifft die Mitglieder der Erbengemeinschaft die Pflicht gem. § 149 AO zur Abgabe der Steuererklärung. Diese Verpflichtung besteht ihrerseits nur solange keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Da mangels Steuererklärung die dreijährige Anlaufhemmung greift, sind die Mitglieder der Erbengemeinschaft zur Abgabe der Steuererklärung bis zum Jahre 2007 verpflichtet.
Soweit in den Jahren 2012–2015 Schätzungen erfolgt sind, in denen die Steuern zu niedrig festgesetzt wurden, gilt ebenfalls § 149 AO und die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung. Dies ist durch § 149 Abs. 1 S. 4 AO klargestellt.
In Beispiel 31 hat der verstorbene Steuerpflichtige für die Jahre 2012, 2013, 2014 und 2015 unrichtige Steuererklärungen hinsichtlich seiner Kapitaleinkünfte abgegeben. Da dies auch zu einer Steuerverkürzung führte und die Miterben S und B erst nachträglich, d.h. nach dem Erbfall, Kenntnis erlangten und damit weder Teilnehmer noch Täter der Steuerhinterziehung waren, sind sie vor Ablauf der Festsetzungsverjährungsfrist berichtigungsverpflichtet.
Rz. 93
Die Mitglieder der Erbengemeinschaft sind zur unverzüglichen Nacherklärung verpflichtet, d.h., sie haben ohne schuldhaftes Zögern i.S.v. § 121 Abs. 1 S. 1 BGB der zuständigen Behörde die Unrichtigkeit der Erklärung anzuzeigen. Hierbei wird lediglich verlangt, dass die Anzeige auf eine konkrete Steuererklärung bezogen ist. In einem zweiten Schritt ist die notwendige Richtigstellung vorzunehmen; dies muss nicht zwingend unverzüglich erfolgen, die Richtigstellung muss aber inhaltlich dem Finanzamt die Möglichkeit geben, die zu niedrig festgestellte Steuer nunmehr zutreffend festzusetzen. Damit sind die Mitglieder der Erbengemeinschaft verpflichtet, die bislang nicht erklärten Jahre gem. § 149 AO zu erklären und die Jahre 2012 bis 2015zu berichtigen gem. § 153 Abs. 1 AO.
Die Auswirkungen der Nacherklärungspflicht gem. § 153 Abs. 1 AO auf die Erbengemeinschaft sind vielfältig.
Beispiel 32
E hat im Jahre 2012 mit Aktien spekuliert und Spekulationsgewinne i.H.v. 150.000 EUR erwirtschaftet. In seiner Steuererklärung hat er diese Gewinne nicht angegeben. Nach Bescheidung aufgrund seiner unrichtigen Angaben verstirbt E. Ihn beerbt die Erbengemeinschaft bestehend aus seinen drei Söhnen S, B und G am 5.1.2015. Bei Durchsicht der Unterlagen des Erblassers unmittelbar danach stellen die drei Miterben den Sachverhalt fest. Während G die Angelegenheit den Finanzbehörden mitteilen will, plädieren S und B gegen eine Meldung.
Variante A: G zeigt die Spekulationsgewinne Mitte Januar an.
Variante B: G entschließt sich erst Ende Februar zur Anzeige der Spekulationsgewinne bei den Finanzbehörden. Mit S und B spricht er hierüber nicht.
Rz. 94
Da die Miterben in keiner Weise bei der Begehung der Hinterziehung durch den Erblasser mitgewirkt haben, sind sie an dessen Straftat nicht beteiligt. Den Mitgliedern der Erbengemeinschaft drohen ab...