Rz. 66
Nach § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, soweit zureichende tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen. Dies ist die Kernvoraussetzung des sogenannten Anfangsverdachts. Der Begriff des Anfangsverdachts ist deshalb der Zentralbegriff des Ermittlungsverfahrens, weil in der Strafprozessordnung zahlreiche der Aufklärung dienende Zwangsmaßnahmen normiert sind, deren tatbestandliche Voraussetzungen eben an diesen Verdachtsgrad anknüpfen. Dies gilt zum Beispiel für die Durchsuchung beim Verdächtigen oder auch anderen Personen nach §§ 102, 103 StPO, die Beschlagnahme gem. §§ 98, 100 StPO sowie die körperlichen und erkennungsdienstlichen Untersuchungen nach §§ 81a–81e StPO. Der die Durchsuchung anordnende Richter muss den Wahrheitsgehalt der ihm von der Polizei übermittelten Tatsachen nicht überprüfen, wenn er keine Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit hat. Vielmehr genügt aufgrund des festgestellten Anfangsverdachts die Annahme, dass die Durchsuchung ihren Zweck erreichen werde.
Rz. 67
Damit kommt der erstmaligen Prüfung des Anfangsverdachts große Bedeutung zu, da bei seiner Bejahung die hohe Wahrscheinlichkeit der Anordnung von Zwangsmitteln besteht. Mit dem Anfangsverdacht schlägt das Recht zum Einleiten (von Ermittlungen) um in das Recht zum Einschreiten und damit dem Eingriff in Grundrechte des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1, 13, 14 und zumindest mittelbar in Art. 12 GG), aber auch Dritter (etwa die Durchsuchung gemäß § 103 StPO bei einem Dritten, bei dem Beweismittel vermutet werden).
Rz. 68
Der vom Anzeigeerstatter geltend gemachte Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten muss in konkreten Tatsachen bestehen, welche es als möglich erscheinen lassen, dass nach allgemeiner kriminalistischer Erfahrung eine verfolgbare Straftat vorliegt. Damit scheiden bloße Vermutungen oder kriminalistische Hypothesen zur Begründung eines Anfangsverdachtes aus. Die Ermittlungsbehörde prüft zunächst, ob das zu beurteilende Geschehen – als wahr unterstellt – rechtlich unter einen Straftatbestand subsumierbar ist. Wird dies bejaht, ist zu prüfen, ob es sich auch um eine verfolgbare Straftat handelt, da die Ermittlungsbehörden keine abstrakten Rechtsprüfungen durchführen, sondern den staatlichen Strafanspruch durchsetzen sollen; ist die Tat aber aus Sicht der Ermittlungsbehörden nicht mehr verfolgbar, etwa wegen eingetretener Verjährung oder wegen verspäteten Stellens des Strafantrages, verbietet sich die Einleitung von Ermittlungen. Umstritten ist, wie auf eine solche Entscheidung der Strafverfolgungsbehörde, keine Ermittlungen aufzunehmen, zu reagieren ist, wenn sie als falsch beurteilt wird.
Beispiel 27 (Die gescheiterte Strafanzeige)
Der verheiratete Erblasser E hat mit seinem Sohn S und dessen Mutter M gemeinsam in seinem Haus gelebt. Kurz vor seinem Tod hat E dem S das Versteck seines "Notgroschens" (50 Scheine zu je 500 EUR) gezeigt. Nach dem Tod des E, der von S und M beerbt wird, ist beides nicht mehr aufzufinden. S geht davon aus, dass allein M Zugang zu dem Versteck hatte. Er klagt gegen M auf Herausgabe des hälftigen Betrages, diese bestreitet, das Geld weggenommen zu haben. Im Laufe des langjährigen Prozesses meldet sich eine Freundin der M bei S und teilt ihm mit, dass M ihr die Wegnahme des Geldes gestanden hat. S stellt 10 Tage nach dieser Information Strafantrag wegen aller in Betracht kommenden Delikte. Die Staatsanwaltschaft lehnt die Aufnahme von Ermittlungen unter Hinweis auf § 152 Abs. 2 StPO ab, da die gemäß § 247 StGB laufende Strafantragsfrist bei Diebstahl von drei Monaten bereits abgelaufen sei. Auch die hiergegen angerufene Generalstaatsanwaltschaft hilft der Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung nicht ab.
Rz. 69
Gegen die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft gibt es für den Verletzten normalerweise nur das sog. Klageerzwingungsverfahren nach § 172 StPO. In diesem sehr formalisierten Verfahren muss der Antragssteller eine aus sich heraus verständliche und in sich geschlossene Schilderung des Sachverhalts vornehmen einschließlich aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des Straftatbestandes. Hierdurch soll es dem OLG ermöglicht werden zu prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind hoch, da hierzu sämtliche Beweismittel angegeben und der Gang des Ermittlungsverfahrens einschließlich des Inhalts der Bescheide ebenso umfassend dargelegt werden müssen wie zum Beispiel die Einhaltung der Strafantragsfrist, die Gründe, warum die Tat nicht verjährt ist usw. Angesichts dieser Anforderungen erscheint es gänzlich unmöglich im Fall 27 die obigen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu erfüllen, da die Staatsanwaltschaft gar keine Ermittlungen eingeleitet hat und ohne jegliches Ermittlungssubstrat allein aufgrund der Anzeige eine Begründung des für eine Anklage erforderlichen hinreichenden Tatverdachts unmöglich erscheint. Da das Ziel des Mandanten ...