Rz. 140

Seit den siebziger Jahren propagierte der BGH[209] die sog. Theorie von der Doppelberechtigung, nämlich dass die Pflichtteilsberechtigung nicht nur im Zeitpunkt des Erbfalls, sondern schon im Zeitpunkt der Schenkung bestehen muss. Mit der Entscheidung aus dem Jahre 2012[210] ist er der starken Kritik aus der Literatur nachgekommen und hat diese Theorie der Doppelberechtigung ausdrücklich aufgegeben. Da in dieser Entscheidung nur Bezug auf ein nach einer Schenkung erst pflichtteilsberechtigt gewordenes Kind genommen wurde, sind die Auswirkungen auf das Pflichtteilsrecht eines erst nach einer Schenkung pflichtteilsberechtigt gewordenen Ehegatten noch streitig.

Eine Vielzahl von Autoren machen deutlich, dass diese Entscheidung nicht ohne weiteres auf das Ehegattenpflichtteilsrecht angewandt werden kann, zumal der BGH bewusst sich hierzu nicht geäußert habe.[211] Andere[212] hingegen argumentieren, der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 2325 Abs. 1 BGB könne nicht gegen den Wortlaut teleologisch reduziert werden. Eine Einschränkung könne sich aber ggf. aus § 2330 1. Alt BGB oder bei einer Ausstattung nach § 1624 BGB ergeben.

Karczewski[213] weist zu Recht darauf hin, dass das BVerfG deutlich gemacht habe, § 2325 Abs. 3 S. 3 BGB verstoße weder gegen Art. 6 Abs. 1 GG noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG und zeigt die zwei Begründungsstränge auf. Zum einen verwies das BVerfG auf grundsätzliche Unterschiede in der Schenkung an Ehegatten und an außenstehende Dritte und zum anderen gewährleistete das Pflichtteilsrecht nur die verfassungsrechtlich geschützte grds. unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass. Vor diesem Hintergrund erscheint die erste Literaturauffassung durchaus vorzugswürdig. Zudem muss bedacht werden, dass bei Inkrafttreten des BGB zum 1.1.1900 eine völlig andere Stellung des Ehegatten bestand, wonach das Vermögen der Frau durch die Eheschließung der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen war und daher Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte des § 2325 BGB durchaus schwierig sein dürften.

 

Rz. 141

 

Praxistipp

Bis zur Klärung durch die Rechtsprechung ist dringend anzuraten,[214] mit dem nachrückenden Ehegatten (vorsorglich) einen Pflichtteilsverzichtsvertrag zu schließen, ggf. gegenständlich beschränkt auf voreheliche Zuwendungen!

[209] Vgl. BGHZ 59, 210 = NJW 1973, 40.
[210] BGHZ 193, 260 = NJW 2012, 2730 = ZEV 2012, 478.
[211] So Bonefeld, ZErb 2012, 225; Burandt/Jensen, NWB 2013, 143, 145; Wendt, ErbR 2013, 366, 380, der damals Richter im entscheidenden IV. Senat war und selbst darauf hinwies, dass der BGH gerade diese Frage offengelassen habe; Grüneberg/Weidlich, § 2325 Rn 4.
[212] Insbesondere Keim, NJW 2016, 1617 m.w.N. sowie ohne auf die Gegenstimmen im Einzelnen einzugehen: OLG Hamm ZEV 2017, 430.
[213] Dazu ausführlich: Karczewski, ZEV 2020, 733.
[214] So auch Bonefeld, ZErb 2012, 225; Keim NJW 2012, 3484.

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