Rz. 36
Während es in der erbrechtlichen Praxis meist weniger Schwierigkeiten bereitet festzustellen, ob "dieselbe Rechtssache" vorliegt (vgl. hierzu oben Rdn 7 sowie Rdn 50), gehen die Meinungen weit auseinander, wenn es darum geht zu entscheiden, ob ein Interessenwiderstreit vorliegt.
Beispiel
Zwei Abkömmlinge sind gemeinsam mit der Witwe des Erblassers Mitglied einer Erbengemeinschaft. Ihr Ziel ist die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, wobei die Geschwister sich "über alle Frage einig" sind, lediglich die Witwe "stellt sich quer". Die Abkömmlinge suchen Rechtsanwalt R auf.
Darf er sie beide vertreten?
Rz. 37
In dieser typischen Situation wird niemand bezweifeln, dass dieselbe Rechtssache vorliegt. Fraglich ist es jedoch, welche Bedeutung der Einigung unter den Geschwistern beizumessen ist. Nach der subjektiven Theorie (vgl. oben Rdn 18) bestimmen die Mandanten den Umfang der Tätigkeit des Rechtsanwalts. Danach bestünden keine berufs- und mithin erst Recht keine strafrechtlichen Bedenken, die Abkömmlinge bei diesem einheitlich erklärten Auftrag zu vertreten.
Nach der objektiv-subjektiven Theorie wäre der Rechtsanwalt zunächst gehalten, die Abkömmlinge über mögliche Interessenkonflikte aufzuklären. Dies kann zu folgenden Situationen führen:
Fortsetzung des Beispiels
Die Abkömmlinge teilen dem Rechtsanwalt sogleich im ersten Gespräch ungefragt mit, dass sie vom Erblasser lebzeitige Zuwendungen in unterschiedlicher Höhe erhalten haben.
a) |
Das sei zwischen ihnen aber "kein Thema", denn sie hätten sich informiert und "die Zehn-Jahres-Frist, auf die es ja ankommt" ist bereits abgelaufen. |
b) |
Einer der Abkömmlinge erfährt in der Folgezeit, dass sein Bruder deutlich mehr erhalten hat, als er ursprünglich angenommen hat. Nunmehr wünscht er doch "eine gerechte Lösung" und möchte seinen Ausgleich durchsetzen. |
c) |
Einer der Abkömmlinge stirbt nach Erteilung des Mandats. Seine Erben sehen keine Veranlassung, auf die Ausgleichung zu verzichten. |
Rz. 38
In der Praxis ist kaum je einem Abkömmlinge bewusst, dass Zuwendungen nach § 2050 BGB unabhängig von etwaigen Fristen auszugleichen sind (vgl. hierzu auch § 7 Rdn 3 und Rdn 11 ff.). Klärt der Rechtsanwalt nun seine beiden Mandanten auf, so läuft er Gefahr auch beide Mandate zu verlieren. Denn selbstverständlich muss er beide Mandate niederlegen, wenn – nach Aufklärung über die unterschiedlichen Interessen – ein Mandant von der ursprünglichen "Einigung" zur gemeinsamen Vertretung abrückt, § 3 Abs. 4 BORA.
Der seine beiden Mandanten aufklärende Rechtsanwalt läuft somit Gefahr, beide Mandate zu verlieren – und zwar in jeder der im Beispiel genannten Varianten. Einig sind sich die Vertreter der "objektiv-subjektiven Aufklärungstheorie" immerhin insoweit, dass der Rechtsanwalt auf die möglichen Folgen eines auch später auftretenden Interessenwiderstreits (Varianten b und c) vor Mandatierung hinzuweisen hat. Versäumt er dies, so schuldet er seinen Mandanten Schadensersatz in Höhe der Vergütungsforderung des neu zu beauftragenden Rechtsanwalts.