a) Überblick
Rz. 16
Die eigentliche Auseinandersetzung bei der Prüfung eines Parteiverrats findet – soweit es erbrechtliche Mandate angeht – somit selten bei der Frage statt, ob es sich um "dieselbe Rechtssache" handelt (vgl. hierzu oben Rdn 5 ff.). Gerungen wird vielmehr um die Bedeutung der "widerstreitenden Interessen" (§ 43a Abs. 4 bzw. § 3 Abs. 1 BORA) bzw. des "pflichtwidrigen Dienens" (§ 356 StGB). Insbesondere bei der strafrechtlichen Beurteilung handelt es sich regelmäßig um das zentrale Tatbestandsmerkmal, dass über die Frage der Strafbarkeit des anwaltlichen Handelns den Ausschlag gibt. Letztlich ist dies der "Dreh- und Angelpunkt" der Diskussion zur Frage des Bestehens einer Interessenkollision und des Parteiverrats. Dabei sind die Fragen zu beantworten, wie einerseits das Interesse des Mandanten und andererseits der Widerstreit zu ermitteln ist. Der Streit über die Beantwortung dieser Fragen, wurde bis in das Jahr 2010 kontrovers geführt. In seinem Beschluss v. 4.2.2010 führt der 9. Zivilsenat dann wörtlich aus:
Zitat
"Der in der Vergangenheit zum Tatbestand des Parteiverrats geführte Meinungsstreit, ob die maßgeblichen Interessen mehrerer von einem einzelnen Rechtsanwalt vertretener Mandanten objektiv zu bestimmen sind oder nach deren subjektiv verfolgten Zielen, ist überholt. Es besteht im Grundsatz Einigkeit, dass den subjektiven Vorstellungen der Mandanten entscheidende Bedeutung zukommt."
Rz. 17
Der Senat nimmt dabei auf die Entscheidung des BVerfG vom 3.7.2003 ("Sozietätswechsel") Bezug und sieht sich auch hierdurch darin bestätigt, dass zu dieser Frage kein Streit bestünde und daher die Nichtzulassungsbeschwerde gerade keine klärungsbedürftigen Fragen aufweise. Durch die Entscheidungen des Anwaltssenats des BGH vom 23.4.2012 sowie des IV. Zivilsenats vom 16.1.2013 scheint die Streitfrage jedoch nunmehr auch vom BGH wieder aufgeworfen worden zu sein – freilich ohne dies anzusprechen oder gar den Streit näher zu erörtern.
Es lassen sich im Wesentlichen die drei nachfolgend dargestellten Auffassungen feststellen, wie die Frage nach Pflichtwidrigkeit bzw. des Widerstreits der Interessen zu beantworten ist. Dieser Theorienstreit hat Auswirkungen auf den Zeitpunkt der Nichtigkeit des Anwaltsvertrages (siehe hierzu unten Rdn 25) sowie das Schicksal des Vergütungsanspruches (siehe hierzu unten Rdn 29).
b) "Objektive Theorie"
Rz. 18
Die Vertreter der objektiven Theorie fragen ausschließlich nach dem objektiv ermittelten Interesse des Mandanten. Es kommt danach nicht darauf an, ob im Augenblick ein Widerstreit besteht, sondern vielmehr darauf, ob es für den kundigen Beurteiler absehbar ist, dass ein derartiger Interessenwiderstreit auftreten könnte. Dabei sind sämtliche Entwicklungsmöglichkeiten sowohl in rechtlicher als auch persönlicher Hinsicht beim Auftraggeber in Betracht zu ziehen. Unerheblich ist es auch, ob der Mandant von der Möglichkeit des Interessenwiderstreits Kenntnis hat und er möglicherweise das Mandat des Rechtsanwalts insoweit ausdrücklich einschränkt. Mit anderen Worten: Ist es grundsätzlich möglich, dass es künftig innerhalb des vorliegenden Lebenssachverhaltes zu einem Interessengegensatz der Auftraggeber kommen kann? Dabei ist es auch hier nicht maßgebend, ob der Gegensatz zeitlich parallel oder nacheinander auftritt. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die rechtlichen oder wirtschaftlichen Interessen des Mandanten verletzt werden.
Der Rechtsanwalt, der als kundiger Berater über das überlegene Wissen möglicher künftiger Konflikte im Rahmen des ihm angetragenen Mandats verfügt, muss den Mandanten vor einer möglichen Entwicklung des Mandats schützen, die zu einer Niederlegung der Mandate sämtlicher Mandanten führen muss (hierzu Rdn 23). Der Rechtsanwalt hat den möglichen Interessengegensatz zu antizipieren – nicht der Mandant.
c) "Subjektive Theorie"
Rz. 19
Nach einer anderen Auffassung wird das "Interesse" allein durch den Mandanten bestimmt: Es komme jedenfalls dort, wo der Streitstoff der Parteidisposition unterliege, allein auf die vom Mandanten mitgeteilte Interessenlage an. Der Auftrag des Mandanten bestimme den Umfang der Interessenwahrnehmung durch den Anwalt und einzig daran müsse sich auch die Frage des Interessenwiderstreits orientieren. Der Anwalt dürfe si...