Rz. 77
Der D&O-Versicherung liegt – lange Jahre unangefochten – das sog. claims-made-Prinzip, das Anspruchserhebungsprinzip zugrunde. Der Versicherungsfall ist nicht schon die (behauptete) Pflichtverletzung oder das etwaig daraus resultierende Schadenereignis, vielmehr erst die Geltendmachung des Haftpflichtanspruchs gegenüber den in der jeweiligen Klausel zitierten Personen, und dies nach Ziff. A-2 AVB-D&O auch nur, wenn die erstmalige Geltendmachung eines Haftpflichtanspruches gegen eine versicherte Person während der Dauer des Versicherungsvertrags geschieht.
Im Sinne dieses Vertrags ist ein Haftpflichtanspruch geltend gemacht, wenn gegen eine versicherte Person ein Anspruch schriftlich erhoben wird oder ein Dritter der Versicherungsnehmerin, einer Tochtergesellschaft oder der versicherten Person schriftlich mitteilt, einen Anspruch gegen eine versicherte Person zu haben (vgl. Ziff. A-2 AVB-D&O). Der Versicherungsfall ist, von Ausnahmen abgesehen (vorbeugender Rechtsschutz), grundsätzlich das Ereignis, mit dessen Eintritt die Leistungspflicht des Versicherers begründet wird. Wie bei US-amerikanischen Policen steht damit die Anspruchserhebung im Vordergrund. Die D&O-Versicherung weicht damit von der allgemeinen Haftpflichtversicherung ab (die auf das Schadenereignis selbst abstellt). Sie grenzt sich aber auch ab von den AVB-Vermögen, bei denen beim Versicherungsfall auf den "Verstoß" (also das Verstoßprinzip – aber auch Kausalereignis genannt) abgestellt wird. In zeitlicher Hinsicht wird der Versicherungsschutz bei einem Teil der auf dem Markt befindlichen Policen durch eine Kombination von Verstoß- und Anspruchserhebungsprinzip eingegrenzt: Um Versicherungsschutz zu erhalten, ist es bei diesen Policen erforderlich, dass sowohl die haftungsbegründende Pflichtverletzung als auch die erstmalige schriftliche Geltendmachung des Haftpflichtanspruchs während der Vertragslaufzeit erfolgt (vgl. dazu noch Ziff. 3.1 S. 1 des Modells von Mai 2011). Wird eine Pflichtverletzung durch fahrlässige Unterlassung verursacht, gilt sie im Zweifel als an dem Tag begangen, an welchem die versäumte Handlung spätestens hätte vorgenommen werden müssen, um den Eintritt des Schadens abzuwenden (Ziff. 3.1 S. 2 des GDV-Modells von Mai 2011). Damit wird der Deckungsbereich im Rahmen dieser D&O-Versicherungen – was Beginn und Ende der Vertragslaufzeit betrifft – (nicht gänzlich unerheblich) zu Lasten der Versicherten beschränkt.
Bedingt durch das Grundsatzurteil des OLG München vom 8.5.2009 zur Frage, ob und inwieweit das "claims-made-Prinzip" in seinen konkreten Bestandteilen und seiner jeweiligen Ausgestaltung für rechtlich bedenklich gehalten werden kann (dazu sogleich mehr, siehe Rdn 78), hatte der Gesamtverband einige Maßnahmen ergriffen, die als klarstellende Ergänzungen, aber auch als eine Optimierung des Versicherungsschutzes verstanden werden können. So hat der GDV ab den Musterbedingungen Mai 2011 bereits einen ausdrücklichen Hinweis den Empfehlungen vorangestellt, dass der Versicherungsvertrag eine auf dem Anspruchserhebungsprinzip (claims-made-Prinzip) basierende Versicherung sei und den Begriff erläutert, d.h. der Versicherungsfall ist die erstmalige Geltendmachung eines Haftpflichtanspruchs gegen eine versicherte Person während der Dauer des Versicherungsvertrages (vgl. dazu auch Ziff. 2 der Modellbedingungen 2013).
Nach dem aktuellen GDV-Modell aus Mai 2020 sind Pflichtverletzungen vor Vertragsbeginn nunmehr standardmäßig in den Deckungsschutz mit eingeschlossen (vgl. Rdn 91). Bereits zuvor haben sich – was die geltenden und am Markt befindlichen D&O-Policen angeht – in beiden Richtungen (zu Beginn und zum Ende) "Verbreiterungen des Schutzkorridors" zugunsten der versicherten Organmitglieder durchgesetzt. Zum einen werden – wie unter Rdn 91 zu zeigen sein wird – "Rückwärtsdeckungen" zur Verfügung gestellt, zum anderen besteht die Möglichkeit, eine "Nachhaftung" zu vereinbaren (siehe dazu Rdn 92). Die beiden Konzepte – reines Anspruchserhebungsprinzip sowie kombiniertes Anspruchserhebungs- und Verstoßprinzip – unterscheiden sich grundlegend darin, dass im Rahmen des Anspruchserhebungsprinzips automatisch unbegrenzter Versicherungsschutz für vorvertragliche Pflichtverletzungen besteht, während bei Anwendung der Kombination eine Rückwärtsversicherung – i.d.R. – einer besonderen Vereinbarung bedarf, so wie es noch das GDV-Modell 2011 in Ziff. 3.1: "Erfasste Pflichtverletzungen und Anspruchserhebungen" vorsah.
Rz. 78
Bezüglich der Wirksamkeit des claims-made-Prinzips ist auf die Grundsatzentscheidung des OLG München zu verweisen: Ein ehemaliges Vorstandsmitglied einer insolventen AG wurde im Jahre 2006 für Pflichtverletzungen aus dem Jahre 2002 vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen. Für das Jahr 2002 hatte die AG eine D&O-Versicherung auf typischer claims-made-Basis abgeschlossen, die zum Ablauf des Jahres 2002 gekündigt worden war. Versichert waren Schadensersatzansprüche wegen Pflichtverletzungen, die während des ...