Dr. iur. Marcus Hartmann, Walter Krug
1. Rechtsnatur
Rz. 25
Der Erbschein stellt ein Zeugnis über das Erbrecht und die Höhe des Erbteils dar, § 2353 BGB. Der Erbschein ist eine öffentliche Urkunde i.S.d. §§ 415 ff. ZPO und strafrechtlich durch § 271 StGB geschützt.
2. Rechtsvermutung
Rz. 26
Der Erbschein begründet nach § 2365 BGB eine doppelte widerlegbare gesetzliche Vermutung:
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Das im Erbschein angegebene Erbrecht einer Person und die Erbquote werden vermutet (positive Vermutung). |
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Weiter wird vermutet, dass im Erbschein nicht angegebene Verfügungsbeschränkungen auch nicht bestehen (negative Vermutung). |
Solche Verfügungsbeschränkungen können sein: Testamentsvollstreckung, Nacherbfolge und Ersatznacherbfolge. Ist die Testamentsvollstreckung auf einen Nachlassgegenstand beschränkt, ist diese Beschränkung im Erbschein anzugeben.
Rz. 27
Ausländischer Nachlassabwickler: Besteht eine Nachlassabwicklung nach ausländischem Recht, weil bspw. ein executor oder ein administrator nach angloamerikanischem Recht bestellt ist, ist dies im Erbschein anzugeben entsprechend dem Testamentsvollstreckervermerk, weil auch insofern Verfügungsbeschränkungen bestehen.
3. Grenzen der Vermutung
Rz. 28
Inhaltliche Grenze: Da Pflichtteilsrechte, Vermächtnisse und Teilungsanordnungen nicht in einen Erbschein aufgenommen werden (sie sind rein schuldrechtlicher Natur und berühren die Erbfolge nicht), ist weder deren Bestehen noch Nichtbestehen von der Vermutung des § 2365 BGB umfasst. Die Vermutungswirkung erstreckt sich auch nicht auf die gelegentlich anzutreffende deklaratorische Angabe des Berufungsgrundes im Erbschein, soweit die Angabe nicht notwendig ist (§§ 1951, 2088 BGB). Ist der Berufungsgrund fehlerhaft angegeben, wird der Erbschein nicht eingezogen, sondern entsprechend § 319 Abs. 1 ZPO berichtigt.
Rz. 29
Zeitliche Grenze: Die Vermutungswirkung beginnt mit der Aushändigung der Ausfertigung des Erbscheins an den Antragsteller und endet mit der Einziehung oder Kraftloserklärung des unrichtigen Erbscheins nach § 2361 BGB. Der erzwungenen Herausgabe des unrichtigen Erbscheins an das Nachlassgericht nach § 2362 Abs. 1 BGB kommt die Rechtswirkung der Einziehung oder Kraftloserklärung zu, § 2361 Abs. 1 S. 2 BGB analog.
4. Vermutungswirkung im Prozess
Rz. 30
Die Rechtsvermutung des § 2365 BGB führt in analoger Anwendung von § 292 ZPO zur Umkehr der Beweislast im Prozess. Diese Vermutung kommt vor allem dem im Erbschein genannten Erben bei Rechtsstreitigkeiten mit Dritten zugute. Auf diese Vermutungswirkung kann sich ein durch Erbschein ausgewiesener vermeintlicher Erbe nicht berufen, wenn ein weiterer Erbprätendent ihm das Erbrecht in einem zivilgerichtlichen Verfahren streitig macht. Das Prozessgericht ist an die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Nachlassgerichts, die Eingang in den Erbschein gefunden haben, nicht gebunden. Dies gilt auch für den Fall, dass das Nachlassgericht bereits eine umfangreiche Beweisaufnahme, bspw. zur Testierfähigkeit, durchgeführt hat. Wenn im Zivilverfahren die Feststellungen des Nachlassgerichts keine Vorgreiflichkeit begründen, fehlt es dem erteilten Erbschein an der Tatsachengrundlage, sodass dieser im Erbprätendentenstreit keine Auswirkung auf die Beweislastverteilung zu den Umständen haben kann, auf die sich die rechtliche Vermutung ansonsten bezieht.
5. Öffentlicher Glaube
Rz. 31
Da die Rechtsvermutung des § 2365 BGB und die Beweislastumkehr des § 292 ZPO analog nicht unmittelbar den Rechtsverkehr schützen, wird diese Lücke durch den öffentlichen Glauben an den Erbschein nach §§ 2366, 2367 BGB geschlossen:
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§ 2366 BGB schützt Dritte bei einem rechtsgeschäftlichen Erwerb eines Nachlassgegenstands oder eines Rechts an einem solchen vom Erbscheinserben. |
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§ 2367 BGB erweitert den Schutz auf rechtsgeschäftliche Leistungsbewirkungen eines Dritten an die im Erbschein als Erben ausgewiesene Person. |
Rz. 32
Auf die inhaltliche Richtigkeit des Erbscheins können sich Dritte solange verlassen, wie sie keine Kenntnis von der Unrichtigkeit des Erbscheins bzw. des Herausgabeverlangens des Nachlassgerichts wegen Unrichtigkeit haben. Der öffentliche Glaube bezieht sich seiner Reichweite nach auf § 2365 BGB, sodass bspw. die Zugehörigkeit eines Gegenstands zum Nachlass nicht umfasst ist. Gehört der Gegenstand tatsächlich nicht zum Nachlass, kann sich sein gutgläubiger Erwerb nur aus weiteren Gutglaubensnormen ergeben (§§ 892, 893, 932–936, 1032 S. 2, 1207 BGB).