Dr. iur. Patrick Lenz, Dr. iur. Klaus Koch
I. Allgemeines
Rz. 84
Bei der Anfechtung der bei einem Erbvertrag abgegebenen Willenserklärungen ist in dreifacher Weise zu unterscheiden:
▪ |
die Erklärungen des Vertragspartners, der nicht als Erblasser gehandelt hat, |
▪ |
die vertraglich bindenden Verfügungen des Erblassers und |
▪ |
die einseitigen Verfügungen des Erblassers (§ 2299 BGB). |
II. Erklärungen des Vertragspartners
Rz. 85
Für die Erklärungen des Vertragspartners, die keine Verfügungen von Todes wegen sind, gelten die allgemeinen Anfechtungsvorschriften der §§ 119 ff. BGB, insbesondere die eingeschränkte Motivirrtumsanfechtung des § 119 Abs. 2 BGB. Damit gelten auch die Fristen der §§ 121, 124 BGB. Die Anfechtungserklärung kann formlos abgegeben werden; sie ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die dem Erblasser oder dessen Rechtsnachfolger als Anfechtungsgegner gegenüber abzugeben ist, § 143 BGB.
III. Erbvertraglich bindende Verfügungen
1. Anfechtung des Erbvertrags durch den Erblasser
a) Allgemeines
Rz. 86
Der Selbstanfechtung von vertraglich bindend gewordenen Verfügungen durch den Erblasser selbst kommt in der Praxis einige Bedeutung zu. Trotz des Beurkundungszwanges und der damit verbundenen Belehrung sind sich Erblasser nicht immer im Klaren über die Reichweite der von ihnen eingegangenen vertraglichen Bindung.
Rz. 87
§ 2281 Abs. 1 BGB gewährt dem Erblasser hinsichtlich seiner bindend getroffenen Verfügungen eine Anfechtungsmöglichkeit, deren Tatbestände grundsätzlich dieselben sind wie bei der Testamentsanfechtung, §§ 2281, 2078, 2079 BGB. Hier besteht ein entscheidender Unterschied zum Anfechtungsrecht beim Einzeltestament. Beim Einzeltestament kann der Erblasser jederzeit seine Erklärung widerrufen, deshalb hat er selbst kein Anfechtungsrecht; vielmehr kann dies nur Dritten zustehen (§ 2080 BGB). Dem entspricht es, dass der Erblasser seine einseitig im Erbvertrag (§ 2299 BGB) getroffenen Verfügungen ebenfalls nicht anfechten kann, weil ihm insoweit ebenfalls die Widerrufsmöglichkeit offensteht (§§ 2299 Abs. 2, 2253 ff. BGB).
Rz. 88
Da es beim Erbvertrag verschiedene Vertragstypen gibt, ist eine differenzierende Betrachtung erforderlich. So geht das Gesetz im Allgemeinen vom einseitigen Erbvertrag aus (§ 2274 BGB), es kennt jedoch auch die Sonderform des Ehegattenerbvertrags (§§ 2280, 2292 BGB) und sonstige zweiseitige Erbverträge (§ 2298 BGB).
b) Einseitiger Erbvertrag; Selbstanfechtungsrecht des Erblassers
aa) Vertragliche Verfügungen von Todes wegen
Rz. 89
Mit erbvertraglich bindender Wirkung können nur Erbeinsetzung, Vermächtnisanordnung und Auflagenanordnung sowie die Rechtswahl vereinbart werden, § 2278 Abs. 2 BGB. Da nur insoweit eine vertragliche Bindung entstehen kann, kann sich das Selbstanfechtungsrecht des Erblassers auch nur auf solche Anordnungen beziehen. Sind die Regelungen im Erbvertrag zur Frage der Reichweite der Bindung nicht eindeutig, so muss die Frage, ob eine Bindung gewollt ist oder nicht, zunächst durch Auslegung ermittelt werden (§§ 133, 157 BGB). Es gibt auch Verfügungen, bezüglich derer der Erblasser sich einen Änderungsvorbehalt in den Vertrag hat aufnehmen lassen; solange von der Abänderungsmöglichkeit kein Gebrauch gemacht wurde, ist die betreffende Verfügung bindend. Vgl. zum Änderungsvorbehalt Rdn 74 ff.
bb) Anfechtungsgründe
(1) Inhalts- und Erklärungsirrtum
Rz. 90
Hier gelten dieselben Grundsätze wie beim Testamentsanfechtungsrecht, §§ 2281 Abs. 1, 2078 Abs. 1 BGB. Allerdings kann ein Inhaltsirrtum auch in der Weise bestehen, dass sich der Erblasser über die rechtliche Tragweite, vor allem über die Bindungswirkung des Erbvertrags, bei seinem Abschluss nicht im Klaren war.
Rz. 91
Das objektive Moment, das in § 119 Abs. 1 BGB bei der Anfechtung von Willenserklärungen aufgenommen wurde, nämlich die Einschränkung, dass eine Anfechtung ausgeschlossen ist, wenn der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles die Erklärung trotzdem so abgegeben hätte, gilt weder beim Testament noch beim Erbvertrag. Vielmehr ist hier die subjektive Denk- und Anschauungsweise des Erblassers maßgebend. Zu der Frage, ob die Vorstellungen des Erblassers positiv sein müssen oder ob auch eine unbewusste Vorstellung ausreicht, hat der BGH in seiner Rechtsprechung folgende Grundsätze entwickelt:
Rz. 92
▪ |
Allein die Vorstellungen des Erblassers bei Errichtung der letztwilligen Verfügung sind maßgebend; |
▪ |
diese Vorstellungen müssen nicht im Testament oder Erbvertrag ihren Niederschlag gefunden haben; |
▪ |
als Vorstellungen genügen auch unbewusste, d.h. solche, die der Erblasser zwar nicht wirklich hatte, die er aber als selbstverständlich seiner Verfügung zugrunde gelegt hat; |
▪ |
diese Vorstellungen müssen zumindest auch (kausal) mitbestimmend für die Verfügung/den Erbvertrag gewesen sein; |
▪ |
zwischen Testamentsanfechtung und Erbvertragsanfechtung wird, was die Vorstellungen des Erblassers betrifft, kein Unterschied gemacht. |
(2) Motivirrtum
Rz. 93
Auch der Motivirrtum berechtigt den Erblasser zur Anfechtung, §§ 2281, 20...