Rz. 18

Häufig steht in diesem Zusammenhang das Anhörschreiben im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenverfahrens und dessen Zugang[43] im Streit. Da die landesrechtlichen Verwaltungsverfahrensgesetze auf die behördliche Tätigkeit bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten keine Anwendung finden (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG mit den identischen landesrechtlichen Regelungen, z.B. in § 2 Abs. 2 Nr. 2 HambVwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 2 SaarlVwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG BW; § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG NRW) und es sich bei einem Anhörungsschreiben zudem nicht um einen Verwaltungsakt handelt, die Zugangsvermutung des § 41 Abs. 2 S. 1 VwVfG weder unmittelbar noch entsprechend eingreift, löst ein Bestreiten des Zugangs die Beweispflicht der Behörde hinsichtlich des Zugangs des Anhörbogens aus.[44] Die materielle Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Anhörung liegt nach den allgemeinen Regeln der Beweislastverteilung in vollem Umfang bei der Behörde.[45] Eine förmliche Zustellung ist nicht verpflichtend (§ 50 Abs. 1 S. 1 OWiG). Macht die Behörde von ihrem Recht auf eine formlose Anhörung Gebrauch,[46] hat dies nicht zur Folge, dass sodann der Adressat der Anhörung beweisen müsste, dass diese Verfahrenshandlung nicht oder nicht rechtzeitig vorgenommen wurde. Eine Behörde kann ihrer Beweispflicht hinsichtlich des Zugangs jedoch auch nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins genügen, wenn sie Tatsachen vorträgt, aus denen nach allgemeiner Lebenserfahrung geschlossen werden kann, dass der Empfänger einen Bescheid oder ein Schreiben tatsächlich erhalten haben muss.[47] ,[48] Die Behörde kann den Zugang mit einfacher Post versandter Anhörungen des Fahrzeughalters grundsätzlich im Wege des Anscheinsbeweises nachweisen, wenn zumindest der Versand hinreichend belegt ist.[49]

 

Rz. 19

Hat das Berufungsgericht gerade keine Beweislastentscheidung getroffen, sondern ist mit eingehender, auf die Umstände des Einzelfalls abstellender, Begründung davon ausgegangen, dass die Behauptung der Kl. unglaubhaft ist, keines der Anhörungsschreiben erhalten zu haben, so können gegen diese tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen geltend gemacht werden. Auch im Revisionsverfahren ist dann vom Zugang eines Anhörungsschreibens auszugehen.[50]

[43] Zum Nicht-Zugang mehrerer Behördenschreiben (im Rahmen einer Fahrtenbuchanordnung) als Schutzbehauptung: BVerwG, Beschl. v. 24.2.2016 – 3 B 32.15, DAR 2016, 340.
[44] Da es sich beim Nichtzugang eines Briefes um eine negative Tatsache handelt und die Umstände, die den Nichtzugang verursacht haben, in der Regel außerhalb des Einfluss- und Kenntnisbereichs des Empfängers liegen, sind weitere Anforderungen an die Substantiierung des Bestreitens nicht zu stellen. Im konkreten Fall des VG Bayreuth, Beschl. v. 29.9.2014 (B 1 S 14.623, Der Verkehrsanwalt 2015, 223) fehlte auf den beiden in der Behördenakte enthaltenen Entwürfen der Schreiben an die Antragstellerin – ohne dass es darauf entscheidungserheblich ankommt – darüber hinaus auch ein Vermerk, der bestätigt, dass die Originale (an einem bestimmten Tag) zur Post gegeben wurden (vgl. zum Ganzen BayVGH, Beschl. v. 10.10.2006 – 11 CS 06.607 m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 30.9.2008 – 11 CS 08.1953; BayVGH, Urt. v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164, zfs 2016, 297; OVG NRW, Beschl. v. 4.4.2013 – 8 B 173.13, juris; VG Bayreuth, Beschl. v. 29.9.2014, B 1 S 14.623 a.a.O.; zur Probl. auch Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 1: Verteidigung in Verkehrsstraf- und Ordnungswidrigkeiten, 8. Aufl. 2015, § 10 Rn 40 m.w.N.
[45] BayVGH, Urt. v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164, zfs 2016, 297; VG Bayreuth, Beschl. v. 29.9.2014 – B 1 S 14.623, Der Verkehrsanwalt 2015, 223.
[46] BayVGH, Urt. v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164, zfs 2016, 297 Rn 20.
[47] BayVGH, Urt. v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164, zfs 2016, 297 Rn 21; BayVGH, Beschl. v. 6.7.2007 – 7 CE 07.1151, NVwZ-RR 2008, 252, juris Rn 8; Beschl. v. 11.5.2011 – 7 C 11.232, juris Rn 2; SächsOVG, Beschl. v. 16.7.2012 – 3 A 663/10, juris Rn 7; OVG Saarl, Beschl. v. 7.11.2011 – 3 B 371/11, NVwZ-RR 2012, 131, juris Rn 5; VG Düsseldorf, Urt. v. 24.5.2012 – 6 K 8411/10, juris Rn 32.
[48] In BayVGH, Urt. v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164, zfs 2016, 297, wurden sowohl das Anhörungs- als auch das Erinnerungsschreiben an die Klägerin korrekt adressiert und waren nicht als unzustellbar in Rücklauf gekommen. Die Klägerin hat den Zugang auch lediglich pauschal bestritten und keinen atypischen Geschehensablauf schlüssig vorgetragen, aus dem sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ihr die Schreiben – ihren Versand unterstellt – nicht zugegangen sind und dass sie etwa im Postbetrieb verloren gegangen sein könnten. Auch die von der Polizei dokumentierte Äußerung ihres telefonisch kontaktierten Ehemanns, "sie könnten zu der Geschwindigkeitsüberschreitung nichts sagen", da das Fahrzeug hauptsächlich durch den Sohn genutzt werde, spricht dafür, dass die Klägerin zumindest eines der beiden Schreiben erhalten hat. Aufgrund de...

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