1. Einführung und Verhältnis zum Erbschein
Rz. 135
In der Vorauflage dieses Buches wurde das Europäische Nachlasszeugnis (ENZ) als die vielleicht bemerkenswerteste Neuerung innerhalb des Regelungskomplexes der Europäischen Erbrechtsverordnung betitelt. Aus der täglichen Praxis ist zu berichten, dass es ein taugliches Instrument zur Abwicklung von Nachlässen innerhalb der Vertragsstaaten geworden ist und dass es den Vertragsstaaten gelungen ist, ein Zeugnis zu entwickeln, welches europaweit einsetzbar ist. Dabei waren die Bedenken insbesondere unter Praktikern zu Beginn groß und sind es gegebenenfalls jetzt noch. Insbesondere mit Blick auf den südeuropäischen Raum wurde immer wieder die Sorge laut, ob denn ein solches Zeugnis, ausgestellt vom Amtsgericht Groß-Gerau, in Reggio di Calabria, Almería oder Setúbal noch Wirkung entfalten könne. Zwar ist es in der Praxis in den allermeisten Fällen nach wie vor notwendig, dass man sich noch eines Notars vor Ort bedienen muss, jedoch ist dies nicht zwingend ein Nachteil. Wichtig ist, und dies wird durch das ENZ gewährleistet, dass die Erbfolge inkl. Vermächtnisse unkompliziert ins Ausland mitgeteilt werden können. Die durchgängige Nummerierung im ENZ erlaubt es den Gerichten und Notaren dabei im Ausland auch ohne Vorlage einer Übersetzung anhand der Nummern, Erben und Vermächtnisnehmer (Legatare) zu ersehen. Wichtig dabei scheint es zu erwähnen, dass Erbschein und ENZ nicht im Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Ein Erbschein ist kein Europäisches Nachlasszeugnis und ein Europäisches Nachlasszeugnis ist kein Erbschein. Wichtig zu wissen ist aber, dass neben dem Erbschein bei Bedürftigkeit relativ unkompliziert ein ENZ parallel und auch gleichzeitig beantragt werden kann.
2. Exkurs: Neues Internationales Erbrechtsverfahrensgesetz (IntErbRVG)
Rz. 136
Gemäß § 1 Abs. 1 IntErbRVG regelt dieses Gesetz die Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses. Dieses neue Gesetz war also erforderlich, da es für die Umsetzung der EuErbVO weiterer nationaler Regelungen im Bereich des nationalen Zuständigkeits- und Verfahrensrechts bedurfte. In Abschnitt 5 des Gesetzes, den §§ 33–44 IntRErbVG, wird das Verfahren rund um das Europäische Nachlasszeugnis konkretisiert.
3. Zweck des Europäischen Nachlasszeugnisses
Rz. 137
Das ENZ dient der Nachlassabwicklung außerhalb des Inlandes. Es ist nicht allein zur Anwendung im jeweiligen Inland gedacht, sondern soll vielmehr die Abwicklung eines Erbfalls mit Auslandsbezug ermöglichen. Das ENZ dient dabei nicht nur den Erben, sondern aller unmittelbar am Nachlass berechtigter. Es steht mithin nicht in Konkurrenz zum deutschen Erbschein.
a) Internationale Zuständigkeit
Rz. 138
Die internationale Zuständigkeit für das Verfahren zur Beantragung des ENZ ergibt sich aus Art. 4 ff. EuErbVO. Danach fällt die internationale Zuständigkeit dem Land zu, in welchem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Bei einer getroffenen Rechtswahl gemäß Art. 5 EuErbVO können die Erben durch Vereinbarung einer Gerichtsstandsvereinbarung die Zuständigkeit verschieben.
b) Sachliche Zuständigkeit
Rz. 139
Die sachliche Zuständigkeit zur Beantragung des ENZ ist in § 34 IntErbRVG geregelt. Danach ist gem. § 34 Abs. 4 IntErbRVG das Amtsgericht als Nachlassgericht ausschließlich zuständig zur Beantragung. Eine Besonderheit galt bei der Beantragung in Baden-Württemberg: In Württemberg nahm der Bezirksnotar gem. Art. 73 ff. AGBGB und in Baden der Notar gemäß § 33 LFGG die Aufgaben des Nachlassgerichtes wahr. Mit Inkraftreten der Notariatsreform und Neuordnung des Grundbuchwesens zum 1.1.2018 des Landes Baden-Württemberg wurden alle rund 300 bestehenden staatlichen Notariate aufgelöst und freiberuflichen Notaren übergeben. Die Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit wurden, wie im Bund auch, den Amtsgerichten übertragen.
c) Örtliche Zuständigkeit
Rz. 140
Die inländische örtliche Zuständigkeit bestimmt sich wie auch die internationale Zuständigkeit in Art. 4 EuErbVO. Danach ist das Nachlassgericht innerhalb Deutschlands zuständig, an welchem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes hatte. Hatte der Erblasser indes keinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Inland zum Zeitpunkt seines Todes, so ist das Gericht zuständig, in welchem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Fehlt auch dieser, so ist das Amtsgericht Schöneberg (Berlin) zuständig. Das Amtsgericht Schöneberg darf gemäß § 343 Abs. 2 FamFG die Sache aus wichtigem Grund an ein anderes Nachlassgericht verweisen. Eine Verweisung wird in aller Regelmäßigkeit durch das Nachlassger...