Dr. Burkhard Göpfert, Maximilian Melles
Rz. 20
Auch wenn der Arbeitsplatz weggefallen ist und keine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung besteht, ist die Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt hat (§ 1 Abs. 3 KSchG). Bei der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Sozialwidrigkeit sind die Diskriminierungsverbote des AGG zu beachten. Die Sozialauswahl hat in drei Prüfungsstufen zu erfolgen:
a) Vergleichbarkeit
Rz. 21
Der Arbeitgeber hat eine Sozialauswahl unter allen vergleichbaren Arbeitnehmern vorzunehmen. Die Vergleichbarkeit der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer richtet sich in erster Linie nach objektiven, d.h. arbeitsplatzbezogenen Merkmalen. Vergleichbar sind Arbeitnehmer dann, wenn der Arbeitgeber sie unter Berücksichtigung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der vertraglichen Vereinbarungen (insb. arbeitsvertraglicher Versetzungsklauseln) einseitig auf den Arbeitsplatz eines anderen, sozial weniger schutzbedürftigen Arbeitnehmers versetzen könnte.
Dabei geht das BAG folgendermaßen vor: Zunächst ist festzustellen, ob und ggf. welche Arbeitsplätze entfallen. Nach Ermittlung dieser ist zu untersuchen, ob im Betrieb Arbeitsplätze mit identischen oder vergleichbaren Aufgabenbereichen vorhanden sind. Dies ist dann zu bejahen, wenn der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz wegfällt, sofort oder nach zumutbarer Einarbeitungszeit (i.d.R. weniger als drei Monate) einen anderen Arbeitsplatz ausfüllen kann. Soweit dies zu bejahen ist, sind die betroffenen Arbeitnehmer vergleichbar.
Der Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer erstreckt sich auf den ganzen Betrieb, nicht nur auf eine Betriebsabteilung. Dies gilt selbst für Massenentlassungen in Großbetrieben mit großen Betriebsabteilungen, selbst wenn dadurch der Vergleich Hunderter von Arbeitnehmern notwendig wird. Unterhalten mehrere Unternehmen einen gemeinsamen Betrieb, so erstreckt sich die Sozialauswahl auf alle vergleichbaren Arbeitnehmer des gemeinsamen Betriebs. Die Sozialauswahl erstreckt sich dagegen nicht auf andere Betriebe des Unternehmens. Die sog. "betriebsübergreifende Sozialauswahl" ist nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG gerade nicht vorgesehen und wird von der ständigen Rspr. des BAG auch abgelehnt.
b) Bewertung der Sozialdaten
Rz. 22
Aus dem Kreis der in die Sozialauswahl einbezogenen Arbeitnehmer muss derjenige zuerst gekündigt werden, den die Kündigung vergleichsweise am wenigsten hart trifft. Der sozial Stärkere ist vor dem sozial Schwächeren zu entlassen. Die für die Auswahl relevanten Sozialdaten sind abschließend beschränkt auf:
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die Dauer der Betriebszugehörigkeit, |
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das Lebensalter, |
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bestehende Unterhaltspflichten sowie |
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die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers. |
Das Gesetz bietet keine Anhaltspunkte für die Bewertung und Gewichtung der Daten. Die Rspr. ist bisher davon ausgegangen, dass v.a. die Dauer der Betriebszugehörigkeit, dann das Lebensalter und daneben die Unterhaltspflichten einzubeziehen seien. Das BAG vertritt den Standpunkt, keines der vier Auswahlkriterien habe herausragende Bedeutung. Da der Arbeitgeber gesetzlich nur zu einer "ausreichenden" Sozialauswahl verpflichtet sei, stehe ihm auch bei der Gewichtung der Auswahlkriterien ein Wertungsspielraum zu. Damit steht die Betriebszugehörigkeit nicht mehr im Mittelpunkt. Mit Urt. v. 6.11.2008 hat das BAG zudem bestätigt, dass die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien auch unter der Geltung des AGG weiterhin angewendet werden können. Ein regelaltersrentenberechtigter Arbeitnehmer ist allerdings in einer Sozialauswahl hinsichtlich des Lebensalters deutlich weniger schutzbedürftig als ein Arbeitnehmer, der noch keine Altersrente beanspruchen kann.
Bei größeren Personalabbaumaßnahmen wird für die Sozialauswahl in aller Regel auf Punkteschemata zurückgegriffen, die als Auswahlrichtlinien gem. § 95 Abs. 1 BetrVG vereinbart werden und die Gewichtung der Sozialauswahlkriterien festlegen. Dass sich hieraus typischerweise für ältere Arbeitnehmer höhere Sozialpunktzahlen und somit eine höhere soziale Schutzwürdigkeit ergeben, ist i.S.v. § 10 AGG durch das legitime Ziel gerechtfertigt, ältere Arbeitnehmer wegen deren typischerweise schlechteren Arbeitsmarktchancen stärker zu schützen.
c) "Spezialisten-Ausnahme" und Erhaltung der Altersstruktur
Rz. 23
Gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, Arbeitnehm...