Rz. 34
Da das Zivilgericht bei Zulässigkeit des zu ihm beschrittenen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat (§ 17 Abs. 2 GVG, rechtswegüberschreitende Sachkompetenz), sind von ihm sämtliche Anspruchsgrundlagen – im Rahmen des verfolgten Streitgegenstandes – zu prüfen, einschließlich zugehöriger Vorfragen, unabhängig davon, welchem Rechtsgebiet diese zuzuordnen sind und ob sie zur Zuständigkeit des Zivilrechtswegs gehören. Dies gilt regelmäßig auch für öffentlich-rechtliche Vorfragen. Insbesondere steuerrechtliche Vorfragen sind grundsätzlich von den Zivilgerichten selbstständig zu beantworten; nur wenn eine endgültige Beurteilung der objektiven Steuerpflicht auf erhebliche Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art stößt und damit ernsthaft die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörden die Frage der Steuerpflicht abweichend von der Einschätzung der Zivilgerichte beurteilen, dürfen sich diese ausnahmsweise mit der Feststellung begnügen, die Steuerrechtslage sei zumindest ernstlich zweifelhaft, und die Klage deswegen als derzeit unbegründet abweisen.
Rz. 35
Bei Verwaltungsakten darf das Zivilgericht allerdings – da ansonsten in Kompetenzen der Verwaltung eingegriffen würde – grundsätzlich nur prüfen, ob diese bestehen, d.h. erlassen und nicht aufgehoben sind, oder nicht bestehen, das heißt nicht erlassen, nichtig oder aufgehoben sind, da sie in den Grenzen ihrer Bestandskraft andere Gerichte und Behörden auch dann binden, wenn sie fehlerhaft sind. Gegebenenfalls ist der Zivilrechtsstreit bis zum Abschluss eines verwaltungsinternen oder -gerichtlichen Verfahrens auszusetzen (§ 148 ZPO). Die Reichweite der Tatbestandswirkung eines Verwaltungsakts wird durch seinen Regelungsgehalt bestimmt, der wiederum in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB nach den Grundsätzen zu ermitteln ist, die auch für die Auslegung von Willenserklärungen gelten. Danach ist der erklärte Wille der erlassenden Behörde maßgebend, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte. Bei der Ermittlung dieses objektiven Erklärungswerts ist in erster Linie auf den Entscheidungssatz und die Begründung des Verwaltungsakts abzustellen; darüber hinaus ist das materielle Recht, auf dem der Verwaltungsakt beruht, heranzuziehen.
Rz. 36
Eine wichtige Ausnahme von der vorstehenden Beschränkung der zivilgerichtlichen Prüfungsbefugnisse gilt indessen für den Fall der Geltendmachung von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen sowie Ansprüchen aus öffentlich-rechtlichem Verschulden bei Vertragsverhandlungen wegen des pflichtwidrigen Erlasses eines Verwaltungsaktes: In diesen Verfahren haben die Zivilgerichte die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts ohne Rücksicht auf seine Rechtswirksamkeit zu prüfen.
Rz. 37
Eine Gegenausnahme hiervon ist jedoch zu machen, wenn der Verwaltungsakt Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geworden ist; denn die Rechtskraft eines eine Anfechtungsklage abweisenden Urteils umfasst auch die materielle Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Steht aufgrund eines verwaltungsrechtlichen Urteils rechtskräftig fest, dass ein Verwaltungsakt rechtmäßig ist, kann ein Zivilgericht z.B. keine Entschädigung wegen eines enteignungsgleichen rechtswidrigen Eingriffs zusprechen. Die Bindungswirkung erfasst in persönlicher Hinsicht die Beteiligten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (§ 63 VwGO) und ihre Rechtsnachfolger und ist sachlich auf den Streitgegenstand beschränkt. Bei Verpflichtungsklagen erstreckt sie sich, soweit keine Veränderung der entscheidungserheblichen Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen ist, auch auf die Beurteilung der Verwaltungsgerichte, dass die ablehnenden Bescheide rechtswidrig gewesen seien.
Rz. 38
An vorläufige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte betreffend die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen (§ 80 Abs. 5 VwGO) sind die Zivilgerichte dagegen nicht gebunden, da die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts dort nicht Streitgegenstand ist.
Rz. 39
Soweit die Zivilgerichte über die beschränkte Haftung gegenüber in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten, deren Angehörigen oder Hinterbliebenen (§§ 104–107 SGB VII) zu entscheiden haben, sind sie kraft Gesetzes an eine unanfechtbare sozialrechtliche Entscheidung gebunden, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist (§§ 108 Abs. 1, 112 SGB VII; siehe hierzu eingehend § 38 Rdn 1 ff.). Hat ein Gericht über einen nach § 116 SGB X übergegangenen Anspruch (s. hierzu eingehend § 36 Rdn 1 ff.) zu entscheiden, ist es an eine unanfechtbare Entscheidung gebunden, dass und in welchem Umfang der Leistungsträger zur Leistung verpflichtet ist (§ 118 SGB X; siehe hierzu eingehend § 37 Rdn 1 ff.); auch die Frage eines Rentenkürzungsschadens infolge der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente ist eine danach...