Rz. 60

Der Sozialhilfeträger als Gläubiger ist hingegen gem. § 93 Abs. 1 S. 4 SGB XII uneingeschränkt berechtigt, den Pflichtteilsanspruch (auch vor dessen Geltendmachung)[93] auf sich überzuleiten und einzufordern, da die Pfändbarkeits- und Abtretbarkeitsbeschränkung ihm ggü. nicht gilt, Rdn 25. Auf den Träger der Grundsicherung für Arbeit Suchende ("Bürgergeld") geht der Pflichtteilsanspruch sogar gem. § 33 SGB II kraft Gesetzes über, Rdn 34, in Höhe der bereits gewährten Leistungen. Dies gilt nach bisheriger[94] Ansicht des BGH auch dann, wenn durch dessen Geltendmachung eine Enterbung für den zweiten Sterbefall ausgelöst wird;[95] wobei jedoch häufig die Auslegung solcher "Pflichtteilsstrafklauseln" ergibt, dass diese erzwungene Geltendmachung nicht zum Entfallen der Erbenstellung führen solle.[96]

 

Rz. 61

Ein Versuch des Hilfeempfängers, trotz des Bezugs von Sozialhilfeleistungen auf den bereits angefallenen (allerdings noch nicht übergeleiteten) Pflichtteilsanspruch durch Erlassvertrag (§ 397 BGB) einzuwirken, ist nach Ansicht der älteren Rspr. gem. § 138 BGB unwirksam,[97] zumindest liege darin ein schuldhaftes Herbeiführen der Hilfebedürftigkeit (mit der Folge einer Kürzung gem. § 26 Abs. 2 S. 1 SGB XII).[98] Die neuere zivilgerichtliche Judikatur[99] billigt jedoch jedenfalls den Erlassvertrag des geschäftsfähigen Sozialhilfeempfängers zugunsten des länger lebenden, selbst bedürftigen Elternteils, unter Berufung auf die Grundsätze des BGH zum lebzeitigen Pflichtteilsverzicht eines Sozialleistungsbeziehers, Rdn 50. Zu gewärtigen ist allerdings, dass dem Erlassvertrag, jedenfalls wenn er entschädigungslos geschlossen wird, eine Schenkung zugrunde liegt, so dass der Sozialleistungsträger gem. § 528 BGB (kraft Überleitung) Wertersatz in Höhe der monatlichen Bedarfslücke verlangen kann, so dass die Wirkung des Erlassvertrags – jedenfalls bei fortbestehendem Sozialleistungsbezug – nicht "nachhaltig" ist.[100]

 

Rz. 62

Stets wird vom (übergeleiteten bzw., sofern noch kein Sozialleistungsbezug vorliegt, zu dessen Vermeidung einzusetzenden) Pflichtteilsanspruch der etwaige noch unverbrauchte Freibetrag abgezogen, der einem Leistungsempfänger verbleiben kann (im Fall der Sozialhilfe also der sog. kleinere Barbetrag i.S.d. § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII: je 10.000 EUR– Rdn 13 –, soweit noch nicht durch anderes Finanzvermögen aufgezehrt; im Fall des Bürgergeldes ab 2023 gem. § 12 Abs. 2 SGB II für jede Person der Bedarfsgemeinschaft 15.000 EUR (die untereinander verrechenbar sind), während des ersten Jahres nach Bezugsbeginn (sog. Karenzzeit) gem. § 12 Abs. 4 SGB II 40.000 EUR für den Bürgergeldberechtigten zzgl. 15.000 EUR für jede weitere Person der zugehörigen Bedarfsgemeinschaft, Rdn 17).[101] Besonders großzügig ist demzufolge die Freistellung im Bereich des SGB IX (Rehabilitätsleistungen für Behinderte): 150 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV, d.h. 2023 61.110 EUR (West) bzw. 59.220 EUR (Ost), Rdn 20.

[93] Anders verhält es sich lediglich für den "sekundären Pflichtteilsanspruch", der erst nach einer Ausschlagung, etwa gem. § 2306 BGB, entsteht, da das Ausschlagungsrecht selbst nicht übergeleitet werden kann, s.o. Rdn 24.
[94] Wendt (Richter am IV. BGH-Senat) plädiert in ZNotP 2011, 362, 377 dafür, diese Rspr. zu überdenken: um Einflussnahme auf die Erbfolge zu unterbinden, müsse ggf. die Durchsetzung von Pflichtteilsansprüchen im ersten Sterbefall generell untersagt werden.
[95] BGH, 8.12.2004 – IV ZR 223/03, RNotZ 2005, 176, m. Anm. Litzenburger, S. 162; Spall, MittBayNot 2003, 356; zuvor bereits OLG Karlsruhe, 24.9.2003 – 9 U 59/03, DNotI-Report 2004, 37 – gegen OLG Frankfurt, 7.10.2003 – 14 U 233/02, DNotI-Report 2004, 38 (aufgehoben durch BGH, 19.10.2005 – IV ZR 235/03, FamRZ 2006, 194). Im Einzelfall kann allerdings gem. § 12 Abs. 3 Nr. 6, 1. Alt. SGB II a.F. die Verwertung wegen "Unwirtschaftlichkeit" nicht geschuldet sein, wenn bspw. eine Pflichtteilsstrafklausel als Folge der Geltendmachung zum quantifizierbaren, viel höheren Verlust der Schlusserbschaft führen würde: Hohes Alter des vermögenden Zweitversterbenden im Zeitpunkt der Antragstellung nach SGB II bei i.Ü. bindender Schlusserbeinsetzung (Rückverweisung zur Sachverhaltsaufklärung durch BSG, 6.5.2010 – B 14 AS 2/09 R, ZEV 2010, 585).
[96] BGH, 8.12.2004 – IV ZR 223/03, RNotZ 2005, 176, m. Anm. Litzenburger, außerhalb von Behindertentestamenten kommt eine solche einschränkende Auslegung (wonach die Geltendmachung durch den Sozialleistungsträger nicht zum Eingreifen einer "automatischen Enterbung" führen solle) jedoch keinesfalls in Betracht, vgl. OLG Karlsruhe, 18.11.2020 – 11 W 50/19 (Wx), ZErb 2021, 217 m. Anm. Schönenberg-Wessel.
[97] VGH Baden-Württemberg, 8.6.1993 – 6 S 1068/92, NJW 1993, 2953, 2955; OLG Frankfurt, 22.6.2004 – 20 W 332/03, FamRZ 2005, 60; Muscheler, ZEV 2005, 119, 120; v. Proff zu Irnich, ZErb 2010, 207. A.A. jedoch (im Hinblick auf BGH, 19.1.2011 – IV ZR 7/10, DNotZ 2011, 381) Keim, DAI-Skript "Aktuelles zum Behind...

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