Rz. 111
Beispiel 31
Der Erblasser E hat im Jahre 2015 einen Betrag von umgerechnet 100.000 EUR in der Schweiz angelegt und die darauf entfallenden Kapitaleinkünfte von jährlich 5.000 EUR bis zu seinem Tod am 3.1.2020 nicht angegeben. Der Erblasser hat für sämtliche Jahre keine Einkommensteuererklärung abgegeben und wurde hierzu auch nie aufgefordert. In den Jahren 2017 bis 2018 wurde der Erblasser geschätzt, allerdings war diese Schätzung deutlich zu niedrig (lediglich 50 %). E verstirbt 2020. Die aus seinen Söhnen S und B bestehende Erbengemeinschaft findet kurz darauf in einem Geheimfach des Schreibtisches sämtliche Kontounterlagen des Schweizer Bankkontos mit den jährlichen Zinsgutschriften.
§ 153 Abs. 1 AO begründet eine Erklärungsberichtigungspflicht. Danach ist der Steuerpflichtige zur Berichtigung von Erklärungsfehlern verpflichtet, die ihm in seinem Besteuerungsfall unterlaufen sind. Diese Berichtigungspflicht trifft ihn nach der hier vertretenen Auffassung allerdings dann nicht, wenn er vorsätzlich gehandelt hat. Eine derartige Pflicht würde sonst zur Selbstbelastung des Steuerpflichtigen führen und damit dem Grundsatz widerstreiten, dass niemand sich selbst belasten muss (nemo tenetur se ipsum accusare). Entgegen dieser Einschätzung will die neuere Rechtsprechung bei bedingt vorsätzlichem Verhalten des Steuerpflichtigen eine Berichtigungspflicht annehmen, was wertungswidersprüchlich erscheint.
In Beispiel 31 wäre also der Erblasser aufgrund seiner vorsätzlichen Hinterziehung nicht gezwungen gewesen, eine Anzeige nach § 153 Abs. 1 AO abzugeben. Anders stellt sich dies allerdings für seine Gesamtrechtsnachfolger dar. Da diese in § 153 Abs. 1 S. 2 AO auch als Normadressaten genannt sind, wird der Anwendungsbereich hierdurch auf Fälle erstreckt, in denen der verstorbene Steuerpflichtige vorsätzlich gehandelt hat. Da die Mitglieder der Erbengemeinschaft von den strafrechtlichen Vorwürfen nicht betroffen sind, entbindet sie der Nemo-Tenetur-Grundsatz auch nicht von der Berichtigungspflicht.
Rz. 112
Allerdings wurden gar keine Angaben gegenüber den Finanzbehörden vom verstorbenen Steuerpflichtigen gemacht. Da Voraussetzung der Berichtigungspflicht eine unrichtige oder unvollständige Erklärung ist, stellt sich die Frage, ob § 153 AO insoweit Anwendung findet; dies wird überwiegend verneint aufgrund des Wortlauts der Vorschrift. Damit trifft die Mitglieder der Erbengemeinschaft die (originäre) Pflicht gem. § 149 AO zur Abgabe der Steuererklärung. Diese Verpflichtung besteht allerdings ihrerseits nur, solange keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Da mangels Steuererklärung die dreijährige Anlaufhemmung greift, sind die Mitglieder der Erbengemeinschaft zur Abgabe der Steuererklärung bis zum Jahre 2015 verpflichtet.
Soweit in den Jahren 2017–2018 Schätzungen erfolgt sind, in denen die Steuern zu niedrig festgesetzt wurden, gilt ebenfalls § 149 AO und die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung. Dies ist durch § 149 Abs. 1 S. 4 AO klargestellt.
In Beispiel 31 haben die Miterben S und B erst nachträglich, d.h. nach dem Erbfall, Kenntnis erlangten und waren damit weder Teilnehmer noch Täter der Steuerhinterziehung; sie sind deshalb vor Ablauf der Festsetzungsverjährungsfrist erklärungsverpflichtet.
Rz. 113
Die Mitglieder der Erbengemeinschaft sind zur unverzüglichen Nacherklärung verpflichtet, d.h., sie haben ohne schuldhaftes Zögern i.S.v. § 121 Abs. 1 S. 1 BGB der zuständigen Behörde die Unrichtigkeit der Erklärung anzuzeigen. Hierbei wird lediglich verlangt, dass die Anzeige auf eine konkrete Steuererklärung bezogen ist. Erst in einem zweiten Schritt ist die notwendige Richtigstellung vorzunehmen; dies muss nicht zwingend unverzüglich erfolgen, die Richtigstellung muss dem Finanzamt die Möglichkeit geben, die zu niedrig festgesetzte Steuer nunmehr zutreffend festzusetzen.
Die Auswirkungen der Nacherklärungspflicht gem. § 153 Abs. 1 AO auf die Erbengemeinschaft sind vielfältig.
Rz. 114
Beispiel 32
E hat im Jahre 2017 mit Aktien spekuliert und Spekulationsgewinne i.H.v. 150.000 EUR erwirtschaftet. In seiner Steuererklärung hat er diese Gewinne nicht angegeben. Nach Bescheidung aufgrund seiner unrichtigen Angaben verstirbt E. Ihn beerbt die Erbengemeinschaft bestehend aus seinen drei Söhnen S, B und G am 5.1.2022. Bei Durchsicht der Unterlagen des Erblassers unmittelbar danach stellen die drei Miterben den Sachverhalt fest. Während G die Angelegenheit den Finanzbehörden mitteilen will, plädieren S und B gegen eine Meldung.
Variante A: G zeigt die Spekulationsgewinne Mitte Januar an.
Variante B: G entschließt sich erst ein Jahr später zur Anzeige der Spekulationsgewinne bei den Finanzbehörden. Mit S und B spricht er hierüber nicht.
Rz. 115
Da die Miterben in keiner Weise bei der Begehung der Hinterziehung durch den Erblasser mitgewirkt haben, sind sie an dessen Straftat nicht beteiligt. Den Mitgliedern der Erbengemeinschaft drohen aber dann strafrechtliche Konsequenzen, wenn sie positive Kenntnis ...