Rz. 102
Insgesamt lässt sich sagen, dass aufgrund der aufgezeigten Grenzen bei der Abfassung des Behindertentestaments äußerste Sorgfalt geboten ist. Dabei ist insbesondere auf die Besonderheiten des Einzelfalles noch mehr als sonst einzugehen.
Rz. 103
Behindertengerechte Testamentskonstruktionen stehen stets im Brennpunkt der Diskussionsfelder Sittenwidrigkeit und Nachrangprinzip. Von der Unwirksamkeit einer letztwilligen Verfügung infolge Sittenwidrigkeit (§ 138 Abs. 1 BGB) darf nur in schwerwiegenden Ausnahmefällen ausgegangen werden. Sittenwidrig ist eine letztwillige Verfügung dann, wenn sie gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Nahezu alle Gestaltungsansätze im Rahmen von Behindertentestamenten gehen mit Nachteilen für den Sozialleistungsträger einher. Immerhin muss die Allgemeinheit mit staatlichen Leistungen für einen sonst eigentlich liquiden Erben oder Vermächtnisnehmer aufkommen. Das widerspricht an sich dem sozialrechtlichen Nachrangprinzip (§ 2 SGB XII), wonach staatliche Leistungen erst dann gewährt werden, wenn der Hilfesuchende nicht selbst in der Lage ist, für seinen notwendigen Lebensunterhalt zu sorgen. Gerade bei hohen oder sehr hohen Nachlässen erscheint es zunächst nicht hinnehmbar, dass der Behinderte mit staatlichen Mitteln unterstützt werden muss, obwohl sowohl seine Grundversorgung als auch zusätzliche Sonderzuwendungen für besondere Annehmlichkeiten aus dem Nachlass bestritten werden können.
Rz. 104
Der BGH hat die Frage in mehreren Entscheidungen negativ entschieden: Behindertentestamente sind nicht sittenwidrig. Ihre Gestaltung liegt vielmehr im wohlverstandenen Interesse des Erblassers zur Verbesserung der Lebensstellung des behinderten Angehörigen und ist Ausfluss der in Art. 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Testierfreiheit. Nachteile für den Sozialleistungsträger sind als bloße Reflexe der Gestaltung hinzunehmen.
Rz. 105
Die Rechtslage erscheint eindeutig. Bemerkenswert ist allerdings, dass den Entscheidungen des BGH allesamt Sachverhalte zugrunde lagen, bei denen ein Behindertentestament in Form der Vor- und Nacherbenvariante geprüft wurde. Zu den anderen in diesem Kapitel angesprochenen Modellen gibt es bislang keine Entscheidung des höchsten deutschen Zivilgerichts. Interessant ist auch, dass sich die Nachlässe, bei denen es in den vom BGH entschiedenen Fällen ging, in einem maximal eher mittleren Vermögensbereich bewegten. Wie bei einem sehr hohen Erwerb von Todes wegen verfahren werden soll und ob hier das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden nicht etwa doch ein die Grenze zu § 138 Abs. 1 BGB überschreitendes Störgefühl entwickelt, bleibt abzuwarten. Selbst wenn, dann dürfte die Wertbemessungsgrenze hin zur Sittenwidrigkeit wie auch der Zeitpunkt der Bewertung – Errichtung der letztwilligen Verfügung oder Erbfall? – allerdings schwierig zu ziehen sein. Im Zweifel können salvatorische Regelungen in der letztwilligen Verfügung zu einer Risikominimierung beitragen.
Rz. 106
Nach den genannten Grundsatzentscheidungen des BGH bezieht das Behindertentestament seine innere Rechtfertigung – gerade gegenüber dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit – daraus, dass es dem Behinderten ein "Mehr" gibt als dasjenige, was ihm der Sozialhilfeträger an allgemeinen Leistungen nach dem SGB XII gewähren kann. Das Wohl des Behinderten muss daher die Richtschnur für die Gestaltung sein und nicht die Erhaltung des Vermögens im Familienbesitz. Dies muss auch in der konkreten Ausgestaltung der Verfügung von Todes wegen deutlich werden. Dabei gilt: "Es gibt kein Behindertentestament von der Stange."
Rz. 107
Nach hiesiger Auffassung stellt das Behindertentestament in der Vor- und Nacherbenlösung infolge der gefestigten Rechtsprechung des BGH immer noch die rechtssicherste Methode zur Nachfolgegestaltung dar. Gleichwohl darf diese Lösung keinesfalls apodiktisch verstanden werden. Es gibt Konstellationen, in denen jedenfalls die klassische Vermächtnislösung vorzugswürdig erscheint. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Erbengemeinschaft unter Beteiligung des Behinderten vermieden werden soll, was z.B. bei hohen Immobilienwerten oder auch dann der Fall sein kann, wenn sich Unternehmensbeteiligungen im Nachlass befinden. Zu entscheiden ist die Frage immer im Einzelfall und auch anhand der konkreten Zusammensetzung des Nachlasses. Besteht dieser lediglich aus einer (hochwertigen) selbstgenutzten Immobilie ohne größere liquide Mittel, kann es Sinn machen, den Behinderten an der Erbengemeinschaft partizipieren zu lassen und ihm den sozialrechtlich behaltensfesten Wohnwert zufließen zu lassen. Die exotischeren Lösungsansätze sind wegen der beschriebenen Nachteile eher mit Vorsicht zu genießen.
Rz. 108
Die größte Gefahr, die Konstruktion eines Behindertentestaments ins Wanken zu bringen, bleibt schlussendlich eine Faktische: kommt es im Erbfall zur Bestellung eines Ergänzungs-/Betreuers und gewinnen hierüber dritte ...