Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
Rz. 85
Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 53 Abs. 1 EWR-Abkommen verbieten alle Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten spürbar zu beeinträchtigen geeignet sind (siehe hierzu Rdn 12, 13) und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bzw. des Vertragsgebiets bezwecken oder bewirken (siehe Rdn 13). Solchermaßen verbotene Vereinbarungen und Beschlüsse sind insgesamt oder, wenn die wettbewerbsbeschränkende Bestimmung von dem Rest der Vereinbarung abtrennbar ist, teilweise nichtig (Art. 101 Abs. 2 AEUV bzw. Art. 53 Abs. 2 EWR-Abkommen; §§ 134, 139 BGB). Das Kartellverbot erfasst sowohl horizontale Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Unternehmen derselben Produktions- oder Handelsstufe als auch vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen verschiedener Stufen des Wirtschaftsprozesses. Die Kommission hat in verschiedenen Verlautbarungen näher erläutert, wann sie von einer Anwendung der Kartellbestimmungen ausgeht.
Mit der Grundverordnung 1/2003 ist von der Kommission für das europäische Kartellrecht das Prinzip der Legalausnahme eingeführt worden. Eine Kartellvereinbarung bedarf zu ihrer Wirksamkeit keiner konstitutiven Freistellung durch eine Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) oder einer Einzelentscheidung der Kommission. Sie ist vielmehr von Gesetzes wegen freigestellt, wenn die normierten Voraussetzungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt sind. Das ist der Fall, wenn die Vereinbarung unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt, ohne dass den beteiligten Unternehmen Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind oder ihnen Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.
Die GVOen sind in diesem System anwendbare Rechtsnormen im materiellen Sinne. Sie sind indes nur Konkretisierungen der in Art. 101 Abs. 3 AEUV genannten Voraussetzungen mit deklaratorischem Charakter. Ist keine GVO einschlägig, sind die Voraussetzungen einer Freistellung im Einzelfall zu prüfen. Hierzu sind die von der Kommission herausgegebenen allgemeinen Leitlinien, die für horizontale Vereinbarungen und vertikale Vereinbarungen, die für den Bereich Technologie und Lizenzen sowie die für bestimmte Branchen verfassten Leitlinien heranzuziehen.
Die Kommission trifft eine Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit von Art. 101 und Art. 102 AEUV nur noch von Amts wegen, wenn Gründe des öffentlichen Interesses der Gemeinschaft dies erfordern (Art. 10 VO 1/2003). Die Unternehmen müssen deshalb die Vereinbarkeit von Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen unter Heranziehung der von der Kommission veröffentlichten Leitlinien und Bekanntmachungen sowie der Entscheidungspraxis der europäischen Gerichte selbst einschätzen; die Beweislast für die Übereinstimmung mit Art. 101 Abs. 3 AEUV obliegt dem, der sich auf die Bestimmung beruft (Art. 2 VO 1/2003).