Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
a) Bedürfnis nach Rechtssicherheit
Rz. 57
Nach dem System der Legalausnahme müssen Unternehmen selbst entscheiden, ob eine Vereinbarung kartellrechtlich möglich ist. Halten die beteiligten Unternehmen eine Vereinbarung fälschlich für zulässig, drohen ihnen nicht nur die zivilrechtliche Unwirksamkeit, sondern auch ein Kartellordnungsverfahren mit Bußgeldrisiko und Schadensersatzansprüche von Abnehmern. Bei letzterem schützt die Unternehmen keine Unkenntnis der Rechtslage oder eine rechtsirrige Rechtsanwendung.
b) Zusicherung nach § 32c GWB
Rz. 58
Als Instrument, dem Bedürfnis der Unternehmen nach weitgehender Rechtssicherheit auch unter dem Prinzip der Legalausnahme gerecht zu werden, steht den Kartellbehörden die Möglichkeit einer Negativentscheidung nach Art. 5 S. 3 VO 1/2003, § 32c Abs. 1 GWB zur Verfügung. Stellt die Behörde fest, dass die Voraussetzungen für ein Verbot gem. §§ 1, 19–21 und 29 GWB oder Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV nach den ihr vorliegenden Kenntnissen nicht gegeben sind, kann sie entscheiden, dass für sie kein Anlass zum Tätigwerden besteht. Die Entscheidung ergeht als Verfügung nach § 61 Abs. 1 GWB. Sie ist zu begründen und mit einer Rechtsmittelbelehrung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes zuzustellen. Eine Entscheidung nach § 32c Abs. 1 GWB kann von der Kartellbehörde bekannt gemacht werden (§ 62 S. 2 GWB). Die Regelung der Verfügung nach § 32c Abs. 1 GWB stimmt weitgehend mit der Zusicherung im allgemeinen Verwaltungsverfahren nach § 38 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VwVfG überein.
Inhaltlich sichert die Behörde mit der Verfügung nach § 32c Abs. 1 GWB zu, dass sie vorbehaltlich neuer Erkenntnisse keinen Gebrauch von ihren Befugnissen zur Abstellung und nachträglichen Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen Kartellvorschriften nach §§ 32 und 32a GWB machen wird. Sofern eine Veränderung der zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage eintritt, steht es der Kartellbehörde frei, gegen die Vereinbarung oder Verhaltensweise vorzugehen. Für Dritte ist die Entscheidung der Kartellbehörde nicht bindend, so dass der Zivilrechtsweg etwa für eine Beseitigungs- und Unterlassungsklage offen bleibt.
Daneben ist in § 32c Abs. 2 GWB das sog. Vorsitzendenschreiben geregelt. Hierbei teilt die Kartellbehörde informell mit, dass sie im Rahmen ihres Aufgreifermessens von einer vertieften Prüfung absieht. Damit kann der gesteigerte Ermittlungsbedarf einer förmlichen Entscheidung vermieden werden.
c) Anspruch auf eine Entscheidung nach § 32c Abs. 1 GWB
Rz. 59
Ist eine Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern geplant und besteht ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer Entscheidung nach § 32c Abs. 1 GWB, besteht ein Anspruch auf Entscheidung (§ 32c Abs. 4 GWB). Ein solches Interesse liegt regelmäßig bei komplexen neuen Rechtsfragen und außergewöhnlich hohen Investitionsvolumen vor. § 32c Abs. 4 GWB erfasst nur horizontale Kooperationen. Nicht umfasst von dem Anspruch ist somit beispielsweise die Überprüfung eines selektiven Vertriebssystems. Gestaltung und Tiefe der Entscheidung bleibt im Ermessen der Kartellbehörde.
In den nicht von § 32c Abs. 4 GWB erfassten Fällen liegt es im pflichtgemäßen Aufgreifermessen der Behörde, ob sie eine Verfügung nach § 32c Abs. 1 GWB erlässt. Eine formelle Entscheidung kann dann nur angeregt werden. Umgekehrt setzt ein Tätigwerden der Kartellbehörde in diesen Fällen aber auch keinen Antrag oder eine Anregung durch das betroffene Unternehmen voraus. Einen Anspruch auf Entscheidung nach § 32c Abs. 1 GWB haben indes Zeitungs- und Zeitschriftenverlage über eine verlagswirtschaftliche Zusammenarbeit zur Stärkung ihrer wirtschaftlichen Basis für den intermedialen Wettbewerb (§ 30 Abs. 2b GWB); das erfasst allerdings nicht die Zusammenarbeit im redaktionellen Bereich.