Dr. Peter Niggemann, Dr. Martin Buntscheck
Rz. 39
Der Ausdruck "Freistellung" bezeichnet den Fall, dass eine Vereinbarung bzw. ein Verhalten zwar grds. unter das Kartellverbot des § 1 GWB bzw. des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, ausnahmsweise aber zulässig ist. Die Freistellung richtet sich nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB. Sie kann sich zum einen aus einer Verordnung für ganze Gruppen von Vereinbarungen bzw. Verhaltensweisen (Gruppenfreistellung) ergeben, zum anderen aus einer Einzelfallbetrachtung (Einzelfreistellung).
Bei der Freistellung handelt es sich um eine Legalausnahme, d.h. es ist keine behördliche Entscheidung darüber nötig und demgemäß auch nicht vorgesehen. Dies ergibt sich für § 2 GWB bereits aus dem Gesetzeswortlaut. Für Art. 101 Abs. 3 AEUV ist das Prinzip der Legalausnahme in Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 geregelt. Für die beteiligten Unternehmen führt dies zu Rechtsunsicherheit, denn sie müssen in eigener Verantwortung einschätzen, ob ihr Verhalten die Voraussetzungen für eine Freistellung erfüllt, und tragen hierbei das Irrtumsrisiko.
Hinweis
In Zweifelsfällen empfiehlt es sich, informell Kontakt zur zuständigen Behörde aufzunehmen. Die Kommission hat für Fälle, in denen ernsthafte Rechtsunsicherheit besteht, weil neue oder ungelöste Fragen in Bezug auf die Anwendung des Art. 101 AEUV auftauchen, die schriftliche Äußerung auf Anfragen von Unternehmen (Beratungsschreiben) für möglich erachtet, sofern sie dies für angebracht hält und es sich mit ihren Prioritäten bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts vereinbaren lässt. Ein Beratungsschreiben hindert die Kommission später nicht daran, Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, die die Grundlage eines Beratungsschreibens bildeten, in einem Verfahren nach der Verordnung 1/2003 zu prüfen, sie wird aber in diesem Fall einem früheren Beratungsschreiben Rechnung tragen. Die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte sind nicht an das Beratungsschreiben gebunden, können es jedoch entsprechend berücksichtigen.
Rz. 40
Darüber hinaus kann die Kommission von Amts wegen durch Entscheidung feststellen, dass ein Verhalten keinen Verstoß gegen Art. 101 AEUV darstellt, weil die Voraussetzungen des Abs. 1 nicht vorliegen bzw. die Voraussetzungen für eine Freistellung gegeben sind, falls dies aus Gründen des öffentlichen Interesses der Union erforderlich ist (Art. 10 VO 1/2003).
Rz. 41
Gegenüber einer deutschen Kartellbehörde kommt auch der Antrag auf eine Entscheidung gem. § 32c GWB in Betracht, in der die Behörde feststellt, dass kein Anlass besteht, tätig zu werden. Ob sie eine derartige Entscheidung trifft, steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Ein Anspruch besteht nicht. Beamte des BKartA haben erklärt, im Rahmen des § 32c GWB lediglich ein System von Leitentscheidungen errichten zu wollen. Die Entscheidung führt im Fall ihres Erlasses zu einer Selbstbindung der Behörde. Darüber hinaus steht das BKartA informellen Anfragen offen gegenüber. Sie werden regelmäßig (knapp) unter Hinweis auf eine nicht abschließende Prüfung und einem möglichen späteren Aufgreifen des Falls beantwortet. Auch wenn eine solche Antwort auf eine informelle Anfrage nicht rechtsverbindlich ist, gibt sie dennoch eine hilfreiche Indikation zur wettbewerbsrechtlichen Bewertung des Sachverhalts.
Rz. 42
Gem. Art. 2 Satz 1 VO 1/2003 obliegt die Beweislast für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV der Behörde. Ist jedoch bewiesen, dass ein Unternehmen an offenkundig wettbewerbswidrigen Zusammenkünften teilgenommen hat, obliegt es diesem, anhand von Indizien nachzuweisen, dass es an diesen Zusammenkünften ohne irgendwelche wettbewerbswidrigen Absichten teilgenommen hat, und zu beweisen, dass es seine Wettbewerber auf seine andere Zielsetzung hingewiesen hat (Art. 2 Satz 2 VO 1/2003).
Für das Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen trägt das Unternehmen, das sich darauf beruft, die Beweislast. Dieser Grundsatz, der der Beweislastverteilung im (deutschen) Zivilverfahren entspricht, kollidiert jedoch mit dem Amtsermittlungsgrundsatz im (deutschen) Verwaltungsverfahren sowie dem unionsrechtlichen Grundsatz der guten Verwaltung. Dies wird in Erwägungsgrund 5 der VO 1/2003 auch anerkannt. Danach berührt die VO 1/2003 weder die nationalen Rechtsvorschriften über das Beweismaß noch die Verpflichtung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, zur Aufklärung rechtserheblicher Sachverhalte beizutragen, sofern diese Rechtsvorschriften und Anforderungen im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts stehen.
Rz. 43
Es besteht daher Übereinstimmung, dass aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes eine Verpflichtung der Wettbewerbsbehörden und der mitgliedstaatlichen Gerichte besteht, zur Aufklärung rechtserheblicher Sachverhalte beizutragen. Daher muss z.B. auch die Kommission im Verwaltungsverfahren den ihr vorliegenden Sachverhalt daraufhin überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV vorliegen. Nur wenn sich aus dem vorliegend...