Dr. Peter Niggemann, Dr. Martin Buntscheck
Rz. 44
Art. 101 Abs. 3 AEUV sieht die Möglichkeit vor, ganze Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen oder abgestimmten Verhaltensweisen von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freizustellen. Dies geschieht durch Verordnung des Rates oder – bei entsprechender Delegation – durch Verordnung der Kommission (Gruppenfreistellungsverordnung = GVO). § 2 GWB selbst enthält keine derartige Regelung. In § 2 Abs. 2 GWB werden jedoch die unionsrechtlichen GVO für entsprechend anwendbar erklärt. Dies gilt gem. § 2 Abs. 2 Satz 2 GWB auch dann, wenn das betroffene Verhalten nicht geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, d.h. in Fällen, in denen lediglich das nationale Recht anwendbar ist. Dies soll die Einheitlichkeit des Kartellrechts sicherstellen.
Rz. 45
Hinsichtlich der GVO kann man zwischen allgemeinen GVO (z.B. vertikale Vereinbarungen generell) und sektorspezifischen GVO (z.B. Kfz oder Forschung und Entwicklung etc.) unterscheiden. Im Einzelnen handelt es sich um die Gruppenfreistellungsverordnungen für
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vertikale Vereinbarungen, |
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vertikale Vereinbarungen im Kfz-Sektor, |
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Spezialisierungsvereinbarungen, |
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Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, |
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Technologietransfer-Vereinbarungen sowie um |
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die GVO für den Versicherungssektor. |
Sie sind – u.a. abhängig von ihrer Entstehungszeit – unterschiedlich aufgebaut. Jede GVO enthält aber zumindest eine Bestimmung, welche Verhaltensweisen auf keinen Fall von der Gruppenfreistellung erfasst sind ("Schwarze Klauseln"). Bei diesen verbotenen Vereinbarungen handelt es sich i.a.R. um sog. Kernbeschränkungen (s.o.). Im Folgenden findet sich eine überblicksartige Behandlung dieser GVO. Es wurde jedoch von einer näheren Darstellung der GVO für den Versicherungssektor aufgrund ihrer Spezialität abgesehen, zumal sie seit 2017 nicht mehr in Kraft ist, auch wenn sie für die Bewertung von Vereinbarungen inhaltlich noch herangezogen werden kann.
Rz. 46
Ursprünglich hatten – unter dem früher geltenden System der Administrativausnahme – die GVO konstitutive Wirkung. Ob dies auch im System der Legalausnahme noch der Fall ist oder ob die GVO nur noch deklaratorische Wirkung haben, ist umstritten. In jedem Fall aber enthalten die GVO i.d.R. konkretere Freistellungsvoraussetzungen als die generalklauselartigen Bestimmungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB, sodass für die beteiligten Unternehmen bei Eingreifen der GVO mehr Rechtssicherheit besteht. Liegen die Voraussetzungen der GVO vor, kommen Unternehmen auch dann in den Genuss der Freistellung, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. des § 2 Abs. 1 GWB nicht erfüllt sind.
Rz. 47
Greift eine GVO nicht ein, heißt dies noch nicht, dass das fragliche Verhalten rechtswidrig ist. Es kann immer noch nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB zulässig sein. Das Nichteingreifen einer GVO enthält keine Vermutung für die Rechtswidrigkeit der Vereinbarung bzw. des abgestimmten Verhaltens. Allerdings wird in Fällen, in denen eine durch die GVO verbotene Kernbeschränkung vorliegt, eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB i.d.R. nicht in Betracht kommen.
aa) Vertikale Vertriebsvereinbarungen
Rz. 48
Auf vertikale Vereinbarungen, d.h. auf Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zwischen zwei oder mehr Unternehmen, von denen jedes zwecks Durchführung der Vereinbarung auf einer unterschiedlichen Produktions- oder Vertriebsstufe tätig ist, und welche die Bedingungen betreffen, zu denen die Parteien bestimmte Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen können, ist die VO 2022/720 (die sog. Vertikal-GVO) anwendbar. Die Vertikal-GVO findet grds. auch auf Online-Vermittlungsdienste Anwendung. Vom Anwendungsbereich dieser GVO ausgeschlossen sind demgegenüber Lizenzvereinbarungen über gewerbliche Schutzrechte, zumindest sofern es sich hierbei um den Hau...