Dr. Peter Niggemann, Dr. Martin Buntscheck
Rz. 105
Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003 muss die Kommission den Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen, gegen die sich das Verfahren richtet, vor der Feststellung einer Zuwiderhandlung, einer einstweiligen Maßnahme oder einer Bußgeld- oder Zwangsgeldentscheidung Gelegenheit geben, sich zu den von ihr in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten zu äußern. Denn die Kommission darf ihre Entscheidung nur auf Beschwerdepunkte stützen, zu denen die Unternehmen Gelegenheit hatten, sich zu äußern.
Rz. 106
Die Mitteilung der Beschwerdepunkte verlangt die Darstellung des von der Kommission festgestellten Sachverhalts, dessen rechtliche Würdigung durch die Kommission sowie das Ergebnis dieser Würdigung. Sie muss so klar abgefasst sein, dass die betroffenen Unternehmen ersehen können, in welchem konkreten Verhalten die Kommission die Zuwiderhandlung sieht. Auch die herangezogenen Beweismittel sowie die Maßnahmen zur Beseitigung der Zuwiderhandlung und gegen wen sich diese richten sollen, müssen angegeben werden. Fasst die Kommission die Verhängung einer Geldbuße ins Auge, so muss sie dies ebenfalls mitteilen.
Rz. 107
Art. 27 Abs. 2 Satz 1 VO 1/2003 bestimmt, dass die Verteidigungsrechte der Parteien während des Verfahrens in vollem Umfang gewahrt werden müssen. Die Parteien haben das Recht auf Einsicht in die Akten der Kommission, vorbehaltlich berechtigter Interessen von Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse. Kein Recht auf Akteneinsicht besteht bei vertraulichen Informationen sowie bei internen Schriftstücken oder der Korrespondenz der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten (Art. 27 Abs. 2 Satz 3 und 4 VO 1/2003). Neben dem Akteneinsichtsrecht gehören zu den Verteidigungsrechten auch das Recht auf Hinzuziehung eines Anwalts, die Wahrung der Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs, sowie das Auskunftsverweigerungsrecht im Fall der Selbstbelastung (nemo tenetur-Grundsatz).
Rz. 108
Bei Verstoß gegen Art. 27 VO 1/2003 liegt ein Verfahrensfehler vor, der regelmäßig die Rechtswidrigkeit der Kommissionsentscheidung insoweit zur Folge hat, als dies Auswirkungen auf den Verfahrensablauf oder die getroffene Entscheidung haben könnte. Die Entscheidung ist aber nicht automatisch nichtig; vielmehr erfolgt die Aufhebung der Entscheidung nur dann, wenn ohne die Angaben bzw. Beweismittel, bzgl. derer den Unternehmen die geordnete Ausübung ihrer Verteidigungsrechte unmöglich gemacht wurde, der von der Kommission in der Entscheidung erhobene Vorwurf nicht haltbar ist. Wenn das Recht auf Akteneinsicht rechtswidrig verweigert wurde, sind die Verteidigungsrechte verletzt, wenn die vorenthaltenen Unterlagen auch konkret geeignet gewesen wären, einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten. Dies ist bereits dann der Fall, wenn eine – auch entfernte – Möglichkeit besteht, dass das Verwaltungsverfahren bei Akteneinsicht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.