Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
I. Typischer Sachverhalt
Rz. 11
X und Y sind mittelgroße deutsche Chemieunternehmen und Wettbewerber. Um die hohen Forschungskosten zu senken, beabsichtigen sie eine Koordinierung ihrer Forschungsarbeiten und überlegen einen gemeinsamen Vertrieb. Beide Unternehmen verkaufen ihre Produkte insbesondere in Deutschland, aber auch im europäischen Ausland; ihr Marktanteil beträgt über 10 %. Sie möchten wissen, welche Kartellrechtsordnung sie für ihr Vorhaben zu beachten haben.
II. Rechtliche Grundlagen
1. Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
Rz. 12
Maßgebliches Kriterium für die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von GWB und EU-Kartellrecht ist die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, also des Handels zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Ist eine solche Beeinträchtigung zu bejahen, ist die sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt und der Anwendungsbereich von Art. 101 und 102 AEUV eröffnet. Dazu ist zu prüfen, ob sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die betreffende Absprache oder Verhaltensweise unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell den Waren- oder Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen kann.
Die Kommission hat zur Konkretisierung dieser Prüfung umfängliche Leitlinien erlassen, die die einzelnen Tatbestandsmerkmale erläutern. Diese sind für die Kommission als Verwaltungsvorschriften, nicht aber für die Europäischen Gerichte bindend; bei der Anwendung des GWB werden sie zur Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale herangezogen. Nach den Leitlinien ist das Gemeinschaftsrecht anwendbar, wenn sich der Handel zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund der Vereinbarung oder Verhaltensweise anders entwickelt als dies ohne diese Vereinbarung anzunehmen wäre. Der Begriff des Handels zwischen den Mitgliedstaaten ist dabei nicht auf den grenzüberschreitenden Austausch von Waren und Dienstleistungen beschränkt, sondern erfasst alle grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeiten der Unternehmen einschließlich der Niederlassung in anderen Mitgliedstaaten. Ausreichend ist schon die Eignung zur Beeinträchtigung durch die Tätigkeit; eine tatsächliche Behinderung muss nicht vorliegen bzw. nachgewiesen werden, wenn nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit aufgrund objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände besteht. Die Kartellbehörden haben neben der unmittelbaren Auswirkung auf den Handel durch die direkt von dem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten erfassten Waren auch mittelbare Auswirkungen zu berücksichtigen, wenn es sich bei den Waren z.B. um Zwischen- oder Vorprodukte handelt und die Beschränkung Einfluss auf den Handel mit den Endprodukten hat.
Im Allgemeinen gilt, dass Vereinbarungen und Verhaltensweisen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen oder in mehreren Mitgliedstaaten durchgeführt werden, ihrem Wesen nach geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Es kann auch bei Vereinbarungen, die sich nur auf einen einzigen Mitgliedstaat oder einen Teil davon beziehen, die Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt sein, wenn die Vereinbarung zu einer Abschottung des nationalen Marktes vor potentiellen ausländischen Mitbewerbern führt. Hierbei ist nicht nur die konkrete Vereinbarung, sondern sind auch parallele Netze von Vereinbarungen mit ähnlicher Wirkung zu berücksichtigen.
In der Praxis ist im Hinblick auf die starke tatsächliche oder potentielle grenzüberschreitende Tätigkeit der Unternehmen in der überwiegenden Zahl der Fälle von der Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts auszugehen. Der Unterschied zwischen nationalen und EU-Kartellfällen macht sich aber ohnehin nur dann bemerkbar, wenn das deutsche Recht spezifische Regelungen trifft (z.B. §§ 3, 18 ff. GWB).
2. Spürbarkeit
Rz. 13
Als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des Art. 101 Abs. 1 AEUV müssen sowohl die Wettbewerbsbeschränkung als auch die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels spürbar sein. Ist wegen der schwachen Marktstellung der beteiligten Unternehmen der fragliche Produktmarkt nur geringfügig betroffen, fehlt es an der Spürbarkeit der Beeinträchtigung; Art. 101 und 102 AEUV sind dann nicht anwendbar.
Die Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung ist von der Kommission in der de-minimis-Bekanntmachung näher bestimmt worden. Danach liegt keine Spürbarkeit vor, wenn die beteiligten Wettbewerber sind und auf dem relevanten Markt zusammen nicht mehr als 10 % Marktanteil haben und wenn es sich nicht um grds. bedenkliche Hardcore-Beschränkungen wie Prei...