Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
Rz. 50
Ist eine vertikale Vereinbarung vom Verbot des § 1 GWB bzw. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst, sind die Gruppenfreistellungsverordnungen im unmittelbaren Anwendungsbereich des EU-Kartellrechts direkt und unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsklausel über die Verweisung in § 2 Abs. 2 GWB anwendbar. Maßgebliche Regelungen sind hier die allgemeine Vertikal-GVO und die von der Kommission zu vertikalen Vereinbarungen herausgegebenen ausführlichen Leitlinien. Für den Kfz-Sektor gibt es besondere Regelungen in der Kraftfahrzeug-GVO.
Die Vertikal-GVO geht davon aus, dass bestimmte Vereinbarungen mit vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen die wirtschaftliche Effizienz innerhalb einer Produktions- und Vertriebskette erhöhen, weil sie eine bessere Koordinierung zwischen den beteiligten Unternehmen ermöglichen. Ob diese positiven Effekte gegenüber den wettbewerbsschädlichen Auswirkungen als überwiegend anzusehen sind, hängt insbesondere davon ab, inwiefern die Unternehmen dem Interbrand-Wettbewerb ausgesetzt sind.
Die Vertikal-GVO stellt vertikale Vereinbarungen generell frei und bezieht auch Vereinbarungen zwischen Unternehmensvereinigungen und ihren Mitgliedern sowie den Lieferanten mit ein, wenn die Mitglieder Wareneinzelhändler mit nicht mehr als 50 Mio. EUR Umsatz sind; sie gilt unter näheren Voraussetzungen auch für Bestimmungen über geistige Eigentumsrechte. Die Verordnung findet keine Anwendung auf vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, es sei denn, der Anbieter ist zugleich Hersteller und Händler von Waren, der Abnehmer dagegen nur Händler und kein Wettbewerber auf der Herstellungsebene; die Rückausnahme gilt auch dann, wenn der Anbieter ein auf mehreren Wirtschaftsstufen tätiger Dienstleister ist und der Abnehmer Waren oder Dienstleistungen nur auf der Einzelhandelsstufe anbietet und auf der Stufe des Bezugs der Leistung kein Wettbewerber ist (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO).
Die Freistellung durch die Verordnung gilt nur, wenn der Marktanteil des Anbieters auf dem relevanten Markt der Vertragswaren oder -dienstleistungen und der Anteil des Abnehmers auf dem relevanten Bezugsmarkt jeweils nicht mehr als 30 % beträgt. Die Schwelle gilt auch für Mehrparteienvereinbarungen, bei denen ein Unternehmen Waren von einer Vertragspartei bezieht und an eine andere weiterverkauft; das Unternehmen darf dann weder als Abnehmer noch als Anbieter auf dem jeweiligen Markt mehr als 30 % Marktanteil haben (Art. 3 Vertikal-GVO).
Eine Freistellung ist ausgeschlossen, wenn die Vereinbarung sog. Kernbeschränkungen enthält. Das sind insbesondere Preisbindungen der zweiten Hand, Gebiets- oder Kundenbeschränkungen, bei selektiven Vertriebssystemen Beschränkungen des aktiven und passiven Verkaufs an Endverbraucher und von Querlieferungen zwischen den Händlern sowie bestimmte Beschränkungen beim Teile- bzw. Ersatzteilverkauf (Art. 4 Vertikal-GVO). Zu den verbotenen Beschränkungen zählen auch Wettbewerbsverbote für mehr als 5 Jahre bzw. für unbestimmte Dauer, bestimmte nachvertragliche Wettbewerbsverbote für mehr als 1 Jahr und in selektiven Vertriebssystemen das Verbot, Marken bestimmter Konkurrenzlieferanten zu verkaufen (Art. 5 Vertikal-GVO). In der Praxis ist es allerdings geboten, diese Beschränkungen sehr detailliert und im Einzelfall zu prüfen.