Dr. Peter Niggemann, Dr. Martin Buntscheck
Rz. 58
Der § 30 GWB enthält über die Legalausnahme vom Kartellverbot in § 2 Abs. 1 GWB hinaus eine Freistellung für vertikale Preisbindungen von Presseunternehmen, die Zeitschriften oder Zeitungen herstellen (Abs. 1), Branchenvereinbarungen zwischen Vereinigungen von Unternehmen nach Abs. 1 und Vereinigungen von Presse-Grossisten (Abs. 2a) sowie nach der 9. GWB-Novelle für Kooperationen zwischen Zeitungs- oder Zeitschriftenverlagen (Abs. 2b).
Das im Bereich von Zeitschriften und Zeitungen bestehende Remissionsrecht der Presse-Grossisten und Einzelhändler, also das Recht, unverkaufte Exemplare an den Verlag zurückzugeben, lässt die Freistellung vom Preisbindungsverbot durch § 30 Abs. 1 GWB gerechtfertigt erscheinen. Der Verlag trägt als Folge des Rückgaberechts das Absatzrisiko für die von ihm aufgelegten Zeitschriften und Zeitungen. Gem. § 30 Abs. 2a GWB werden Branchenvereinbarungen freigestellt, soweit diese den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungs- und Zeitschriftensortimenten durch die Presse-Grossisten regeln. Durch die Regelung des § 30 Abs. 2a GWB wird sichergestellt, dass der Pressevertrieb weiterhin so durchgeführt werden kann wie bisher. In Deutschland haben sich über Jahrzehnte Gebietsmonopole der Presse-Grossisten gebildet, die wiederum zu einer Neutralitätspflicht der Grossisten in Bezug auf den Vertrieb von Zeitschriften und Zeitungen aller Verlage führen. § 30 Abs. 2a GWB sichert die Praxis, dass einheitliche Konditionen zwischen den Verlagen und dem Bundesverband Presse-Grosso ausgehandelt werden.
Rz. 59
Durch den im Rahmen der 9. GWB-Novelle neu eingeführten § 30 Abs. 2b Satz 1 GWB werden überdies Kooperationen von Presseverlagen vom Verbot des § 1 GWB ausgenommen. Die Bundesregierung erhoffte sich von der neuen Regelung eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Presseverlage durch eine Zusammenarbeit im Anzeigen- und Werbegeschäft, beim Vertrieb, der Zustellung und der Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften sowie der diese reproduzierenden oder substituierenden Produkte i.S.v. § 30 Absatz 1 Satz 2 GWB. Eine Zusammenarbeit im redaktionellen Bereich ist von der Regelung des § 30 Abs. 2b GWB ausgenommen, um die Pressevielfalt nicht zu gefährden (§ 30 Abs. 2b Satz 2 GWB). Nach § 30 Abs. 2b Satz 3 GWB haben Unternehmen auf Antrag einen Anspruch auf eine Entscheidung der Kartellbehörde nach § 32c GWB, also auf eine Nichttätigkeitsverfügung, mit der die Behörde feststellt, dass für sie kein Grund besteht, tätig zu werden, oder im Rahmen ihres Aufgreifermessens von einer Verfahrensaufnahme abzusehen. Durch die Neuregelung gibt es nunmehr ein Antragsrecht für Presseverlage; Unternehmen hingegen haben keinen Anspruch auf eine Entscheidung nach § 32c GWB.
Für die Regelung des § 30 GWB gelten die allgemeinen Grundsätze des Verhältnisses von nationalem Recht zum Unionsrecht. Sofern die Kooperation oder das Verhalten gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt und nicht die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 oder 106 Abs. 2 AEUV erfüllt, kann das deutsche Recht dieses nicht rechtfertigen (s.o.). Nach Ansicht der Kommission gilt aber jedenfalls im Hinblick auf Preisbindungen im Zusammenhang mit dem Remissionsrecht, dass die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt sind. Der BGH hat zudem entschieden, dass § 30 Abs. 2a GWB mit Art. 106 Abs. 2 AEUV vereinbar ist.
Rz. 60
Neben den bereits genannten Sonderregelungen gibt es im GWB weitere Ausnahmen vom Kartellverbot für die Wasserwirtschaft (§ 31 GWB) und die Landwirtschaft (§ 28 GWB). Das Unionsrecht kennt für den Sektor der Landwirtschaft ebenfalls Einschränkungen vom Kartellverbot. Der Unionsgesetzgeber hat erst jüngst für Nachhaltigkeitsstandards bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen eine zusätzliche Sonderregelung getroffen. Nach Art. 210a VO 1308/2013 (in der Fassung vom 7.12.2021) findet Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Zum Nachhaltigkeitsstandard zählen dabei Umweltziele, einschließlich Klimaschutz und Anpassungen an den Klimawandel, die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden sowie Tiergesundheit und Tierwohl. Dabei dürfen aber nur Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen dieses Standards unerlässlich sind. Das BKartA hat im Zusammenhang mit einem Finanzierungskonzept der Rohmilcherzeuger bereits – zutreffend – klargestellt, dass diese Norm nicht für Preisaufschläge ohne konkrete Nachhaltigkeitsstandards gilt.