Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
1. Typischer Sachverhalt
Rz. 94
Die A-GmbH und die X-AG mit jeweils 30 % Marktanteil im europäischen Markt beabsichtigen, über ein Gemeinschaftsunternehmen neue Bauteile zu erforschen, zu entwickeln und zu produzieren, die die Unternehmen dann getrennt vertreiben wollen. Die Unternehmen sind insbesondere im Zweifel über die Freistellungsfähigkeit nach der VO 1217/2010 (FuE-GVO) bzw. der VO 772/2004 (Technologietransfer-GVO), zumal der übrige Markt zersplittert ist.
2. Rechtliche Grundlagen
Rz. 95
Bedingt durch das Prinzip der Legalausnahme (siehe Rdn 85), haben die Unternehmen in Wahrnehmung ihrer kartellrechtlichen Eigenverantwortlichkeit ein erhebliches Interesse daran, von der Kommission beraten zu werden bzw. deren rechtliche Auffassung zu kennen. Die Kommission hat zwar die Befugnis zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Art. 101 AEUV (Art. 10 VO 1/2003); das geschieht aber aus Gründen des öffentlichen Interesses. Gegenüber Unternehmen kann sie in Fällen ernsthafter Rechtsunsicherheit aufgrund neuer oder ungelöster Fragen informelle Beratung leisten. Das erfolgt durch das sog. Beratungsschreiben oder auch durch Erörterung des Sachverhalts mit Beamten der Kommission.
Ein Beratungsschreiben kommt in Betracht, wenn der Fall eine bisher sowohl im EU-Rechtsrahmen einschließlich der Rechtsprechung als auch in den allgemein verfügbaren Orientierungshilfen ungeklärte Rechtsfrage aufwirft und die Klärung zweckmäßig ist. Die Kommission wird nicht tätig, wenn die Rechtsfrage bereits vor den Gemeinschaftsgerichten oder vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einem nationalen Gericht anhängig ist. Angaben von Ratsuchenden müssen so vollständig sein, dass weitere Tatsachenfeststellungen nicht erforderlich sind; eine Behandlung hypothetischer Fragen scheidet aus.
Das Ersuchen um ein Beratungsschreiben berührt nicht die Befugnis der Kommission, ein Verfahren nach der Verordnung Nr. 1/2003 einzuleiten. Das Schreiben selbst ist keine Entscheidung der Kommission; weder die Gemeinschaftsgerichte noch die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten sind an den Inhalt gebunden. Die Kommission ist nicht gehindert, über den Fall unter Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen und neuen Gesichtspunkten ein Verfahren zu eröffnen und auch zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
3. Muster: Ersuchen um ein Beratungsschreiben
Rz. 96
Muster 26.7: Ersuchen um ein Beratungsschreiben
Muster 26.7: Ersuchen um ein Beratungsschreiben
Europäische Kommission
GD Wettbewerb, Antitrust-Kanzlei
B – 1049 – Brüssel
Ersuchen um ein Beratungsschreiben
Wir bestellen uns unter Beifügung von Vollmachten für die A-GmbH und die X-AG und ersuchen um informelle Beratung im Wege eines Beratungsschreibens über Auslegungsfragen des europäischen Rechts, die durch eine von unseren Mandanten beabsichtigte Vereinbarung aufgeworfen werden.
I. Beteiligte Unternehmen und zentrale Kontaktadresse
1. |
Die A-GmbH mit Sitz in _____ ist ein Unternehmen _____. |
2. |
Die X-AG mit Sitz in _____ hat zum Geschäftsbetrieb _____. |
3. |
Für alle Kontakte stehen wir unter unserer Anschrift _____ zur Verfügung. |
II. Beschreibung des Vorhabens
1. |
Die A-GmbH und die X-AG sind Wettbewerber im Bereich _____. Der relevante Markt ist _____. Zum Beleg fügen wir folgende Unterlagen bei: _____. |
2. |
Unsere Mandanten beabsichtigen, _____. Wir fügen zum Beleg auch über das fortgeschrittene Stadium des Vorhabens folgende Unterlagen bei: _____. |
III. Aufgeworfene Auslegungsfragen
1. |
Das Vorhaben ist kartellrechtlich wie folgt zu bewerten: _____. |
2. |
Aufgeworfen ist damit die für das Vorhaben entscheidungserhebliche Frage, _____. |
IV. Fehlende Klärung der aufgeworfenen Fragen
1. |
Die aufgeworfene Frage wird weder durch den EU-Rechtsrahmen noch die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte geklärt. _____ Zu entschiedenen und noch anhängigen Verfahren ist auszuführen: _____. |
2. |
Sonstige Orientierungshilfen, die Entscheidungspraxis der Kommission oder frühere Beratungsschreiben ergeben keine Klärung der Fragen _____. |
V. Zweckmäßigkeit einer Klärung im Wege eines Beratungsschreibens
1. |
Die Klärung der aufgeworfenen Frage durch ein Beratungsschreiben ist in besonderem Maße zweckmäßig, weil _____. |
2. |
Daneben erfordert das Vorhaben beträchtliche Investitionen in Höhe von _____. Auch sind strukturelle Änderungen vorgesehen, so dass ein besonderes Interesse an Rechtssicherheit besteht _____. |
VI. Erklärung über anhängige Verfahren
Wir erklären nach bestem Wissen und Gewissen, dass die Vereinbarung unserer Mandanten nicht Gegenstand eines Verfahrens vor einem Gericht oder einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats ist.
VII. Geschäftsgeheimnisse
Folgende Teile der vorstehenden Anga...