Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
1. Typischer Sachverhalt
Rz. 47
X ist ein deutscher Produzent von Konsumgütern; auf dem relevanten Markt hat er einen Anteil von weniger als 30 %. Er beabsichtigt, mit dem Großhändler Y eine Vereinbarung über den Exklusivvertrieb der Produkte in Deutschland abzuschließen und möchte zur Stabilisierung des Preisniveaus Y einen Mindestverkaufspreis vorgeben sowie Verkäufe in das EU-Ausland untersagen.
2. Rechtliche Grundlagen
a) Einheitliche Verbotsnorm
Rz. 48
Das Kartellverbot nach § 1 GWB gilt einheitlich für alle Beschränkungen in horizontalen und vertikalen Vereinbarungen. Es handelt sich wie im EU-Kartellrecht um einen einheitlichen Verbotstatbestand für beide Formen wettbewerbsbeschränkender Absprachen; es müssen deshalb dieselben allgemeinen Tatbestandvoraussetzungen wie bei horizontalen Vereinbarungen geprüft werden (siehe Rdn 39 ff.). Gleichwohl sind die Freistellungstatbestände unterschiedlich und horizontale Vereinbarungen i.d.R. schädlicher für den Wettbewerb als vertikale Absprachen.
b) Wettbewerbsbeschränkungen durch vertikale Vereinbarungen
Rz. 49
Vertikale Vereinbarungen regeln den Bezug und den Absatz von Waren und Dienstleistungen zwischen Unternehmen, die hinsichtlich dieser Vereinbarung auf unterschiedlichen Wirtschaftsstufen tätig sind.
Die Kommission unterscheidet bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen zwischen vier Kategorien, wobei in vielen Fällen vertikaler Beschränkungen mehr als ein Element hiervon zum Tragen kommt:
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Markenzwang: Der Käufer wird veranlasst, seine Bestellungen für ein bestimmtes Produkt auf einen Lieferanten zu konzentrieren (z.B. Wettbewerbsverbote und Mengenvorgaben). |
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Vertriebsbeschränkung: Der Hersteller soll nur an einen Käufer oder eine begrenzte Anzahl von Käufern verkaufen (z.B. Alleinvertrieb mit Ausschließlichkeitsrechten, Alleinbelieferungsverpflichtungen, selektiver Vertrieb, Verkaufsbeschränkungen auf dem Anschlussmarkt). |
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vertikale Preisbindung: Der Käufer verpflichtet sich oder wird verleitet, nicht unterhalb eines bestimmten Preises, zu einem bestimmten Preis bzw. nicht oberhalb eines bestimmten Preises oder mit einer bestimmten Preisspanne zu verkaufen. |
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Marktaufteilung: Der Käufer wird beim Bezug oder Weiterverkauf eines bestimmten Produkts in seiner Wahlfreiheit eingeschränkt (z.B. Alleinbezugsverträge, Gebietsbeschränkungen für den Weiterverkauf oder Beschränkungen in Bezug auf den Weiterverkauf an den Kunden). |
Wegen der unterschiedlichen Wirkung auf den Markt ist bei der Bewertung auch maßgeblich, ob die Regelung zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen Herstellern konkurrierender Produkte führt (Interbrand-Wettbewerb) oder verschiedene Anbieter der vertragsgegenständlichen Produkte eines bestimmten Herstellers gebunden werden (Intrabrand-Wettbewerb).
c) Freistellung durch Gruppenfreistellungsverordnung
Rz. 50
Ist eine vertikale Vereinbarung vom Verbot des § 1 GWB bzw. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst, sind die Gruppenfreistellungsverordnungen im unmittelbaren Anwendungsbereich des EU-Kartellrechts direkt und unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsklausel über die Verweisung in § 2 Abs. 2 GWB anwendbar. Maßgebliche Regelungen sind hier die allgemeine Vertikal-GVO und die von der Kommission zu vertikalen Vereinbarungen herausgegebenen ausführlichen Leitlinien. Für den Kfz-Sektor gibt es besondere Regelungen in der Kraftfahrzeug-GVO.
Die Vertikal-GVO geht davon aus, dass bestimmte Vereinbarungen mit vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen die wirtschaftliche Effizienz innerhalb einer Produktions- und Vertriebskette erhöhen, weil sie eine bessere Koordinierung zwischen den beteiligten Unternehmen ermöglichen. Ob diese positiven Effekte gegenüber den wettbewerbsschädlichen Auswirkungen als überwiegend anzusehen sind, hängt insbesondere davon ab, inwiefern die Unternehmen dem Interbrand-Wettbewerb ausgesetzt sind.
Die Vertikal-GVO stellt vertikale Vereinbarungen generell frei und bezieht auch Vereinbarungen zwischen Unternehmensvereinigungen und ihren Mitgliedern sowie den Lieferanten mit ein, wenn die Mitglieder Wareneinzelhändler mit nicht mehr als 50 Mio. EUR Umsatz sind; sie gilt unter näheren Voraussetzungen auch für Bestimmungen über geistige Eigentumsrechte. Die Verordnung findet keine Anwendung auf vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, es sei denn, der Anbieter ist zugleich Hersteller und Händler von Waren, der Abnehmer dagegen nur Händler und kein Wettbewerber auf der Herstellungsebene; die Rückausnahme gilt auch dann, wenn der Anbieter ein auf mehreren Wirtschaftsstufen tätiger Dienstleister ist und der Abnehmer Waren oder Dienstleistungen nur auf der Einzelhandelsstufe anbietet und auf der Stufe des Bezugs der Leistung kein Wettbewerber ist (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO).
Die Freistellung durch die Verordnung gilt nur, wenn der Marktanteil des Anbieters auf dem relevanten Markt der Vertragswaren oder -dienstleistungen und der Anteil des Abnehmers auf dem relevanten Bezugsmarkt jeweils nicht mehr als 30 % b...