1. Typischer Sachverhalt

 

Rz. 105

Die A-GmbH hat sich über längere Zeit an einem maßgeblich von der X-AG und der Y-GmbH sowie weiteren Unternehmen betriebenen Preiskartell beteiligt. Nachdem die A-GmbH das Kartell verlassen hat und an einem funktionierenden Wettbewerb interessiert ist, will sie zwecks Vermeidung einer Geldbuße das Kartell von sich aus offenbaren.

2. Rechtliche Grundlagen

 

Rz. 106

Die Kommission eröffnete erstmals 1996 durch eine Kronzeugenregelung die Möglichkeit, Geldbußen in Kartellsachen zu erlassen oder zu ermäßigen, wenn ein Unternehmen bei der Aufdeckung eines Kartells einen entscheidenden Beitrag geleistet hatte. Nach der überarbeiteten Mitteilung[122] wird unterschieden zwischen Erlass einer Geldbuße und Ermäßigung einer Geldbuße; für beide Fälle gelten unterschiedliche Voraussetzungen und Verfahren.

Der Erlass einer Geldbuße setzt voraus, dass das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell durchzuführen oder im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festzustellen. Der Erlass einer Geldbuße wird nur dann gewährt, wenn die Kommission noch nicht über ausreichende Erkenntnisse und Beweismittel verfügte, um eine Nachprüfung anzuordnen oder eine solche Nachprüfung bereits durchgeführt hat. Weitere Bedingungen sind, dass das Unternehmen während des Untersuchungsverfahrens vollständig kooperiert, seine derzeitigen und früheren Mitarbeitern der Kommission zur Verfügung stehen, seine Teilnahme an dem Kartell unmittelbar nach Antragstellung beendet, es keine Beweismittel vernichtet, verfälscht oder unterdrückt und andere nicht zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat. Das Unternehmen muss bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße stellen. Ist unklar, ob das Unternehmen die Bedingung der Erstvorlage erfüllt, kann es durch hypothetische Vorlage der Beweismittel bzw. einer Aufstellung der vorhandenen Beweismittel eine Entscheidung der Kommission herbeiführen.[123]

Für die Ermäßigung einer Geldbuße muss das Unternehmen Beweismittel vorlegen, die für die Kommission gegenüber den vorhandenen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen. Die Bestimmung des Mehrwerts richtet sich danach, wie sehr die Beweismittel der Kommission zum Nachweis des Sachverhalts verhelfen. Legen mehrere Unternehmen solche Beweismittel vor, erhält das erste Unternehmen eine Ermäßigung von 30–50 %, das zweite von 20–30 % und jedes weitere bis zu 20 %. Das Unternehmen muss die Beweismittel von sich aus vorlegen.[124]

Anträge können schriftlich oder mündlich gestellt werden. Eine mündliche Antragstellung wird zwar protokolliert. In diesem Fall stellt das Unternehmen weder selbst Unterlagen her noch erhält es solche, so dass es auch nicht Gefahr läuft, zu deren Herausgabe in einem späteren zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren gezwungen zu werden (z.B. durch sog. "discovery orders"). Wird dem Antrag nicht stattgegeben, kann das Unternehmen seinen Antrag und die eingereichten Beweismittel zurückziehen. Eine Zusammenarbeit mit der Kommission kann bei der Festsetzung der Geldbuße als mildernder Umstand gewertet werden.[125]

Die Verwendung der im Rahmen der Kronzeugenregelung erlangten Unterlagen ist auf Anwendungsfälle von Art. 101 AEUV beschränkt.

[122] Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (EU-Kronzeugenregelung), ABl EG 2006 C 298, 17 ff.
[123] EU-Kronzeugenregelung Rn 8–22.
[124] EU-Kronzeugenregelung Rn 23–30.
[125] Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, Rn 29.

3. Muster: Antrag auf Erlass einer etwaigen Geldbuße wegen einer Kartellabsprache (Kronzeugenregelung)

 

Rz. 107

Muster 26.10: Antrag auf Erlass einer etwaigen Geldbuße wegen einer Kartellabsprache (Kronzeugenregelung)

 

Muster 26.10: Antrag auf Erlass einer etwaigen Geldbuße wegen einer Kartellabsprache (Kronzeugenregelung)

Europäische Kommission

_____

Antrag auf Erlass einer etwaigen Geldbuße wegen einer Kartellabsprache (Kronzeugenregelung)

Wir zeigen unter Beifügung einer auf uns lautenden Vollmacht an, dass wir die A-GmbH vertreten. Für die A-GmbH beantragen wir, dass ihr in Anwendung der Kommissions-Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen die mögliche Geldbuße erlassen wird, die wegen des nachfolgend geschilderten Sachverhaltes anderenfalls gegen sie verhängt worden wäre.

1. Die A-GmbH mit Sitz in _____ ist Herstellerin von _____. Ihre wesentlichen europäischen Wettbewerber sind _____. Alle genannten Unternehmen sind auf dem europäischen Markt tätig. Wir legen dazu folgende Dokumente vor _____.
2. Die X-AG und die Y-GmbH kamen im Jahr _____ auf die A-GmbH und _____ zu und schlugen das folgende Verkaufspreissystem vor _____. Es kam daraufhin zu folgenden Vereinbarungen _____. Zum Nachweis legen wir die nachfolgenden Protokolle, Vertragsentwürfe, Verträge, Notizen etc. vor: _____.
3. Das Kartell wurde wie folgt praktiziert: _____. Dazu legen wir folgende Beweismittel vor: _____. Die A-GmbH hat die Preisabsprachen nur übernommen; an der Durchsetzung bei all...

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