Dr. Peter Niggemann, Dr. Martin Buntscheck
A. Kartellverbot – Art. 101 AEUV, §§ 1–3 GWB
I. Allgemeines
1. Ziel des Verbots
Rz. 1
Das Kartellverbot – bzw. das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, Beschlüsse oder aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen – bezweckt den Schutz des Wettbewerbs. Zwar ist der Begriff des Wettbewerbs nicht gesetzlich definiert. Zu den Grundelementen des Wettbewerbs – sei es als Anbieter-, sei es als Nachfragewettbewerb – gehört aber in jedem Fall ein Marktgeschehen, bei dem Anbieter oder Nachfrager am Markt um Kunden bzw. Lieferanten konkurrieren. Kartelle zielen darauf ab, diesen Wettbewerbsdruck zu reduzieren und dadurch den unternehmerischen Erfolg sicherzustellen. Typische und besonders wettbewerbsschädliche Kartelle liegen daher z.B. vor, wenn Preise abgesprochen, die Produktion einvernehmlich gedrosselt oder Märkte aufgeteilt werden. Die negativen Auswirkungen solcher Praktiken auf die Marktstruktur oder Marktgegenseite – z.B. auf den Verbraucher in Form von höheren Preisen oder geringer Angebotsvielfalt – sollen durch das Kartellverbot verhindert werden.
2. Verhältnis AEUV – GWB
a) Verhältnis von Art. 101 AEUV zu § 1 GWB
Rz. 2
Im deutschen Recht findet sich das Kartellverbot in § 1 GWB, im Unionsrecht in Art. 101 Abs. 1 AEUV. Nach beiden Vorschriften sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, verboten.
Rz. 3
Art. 101 AEUV verlangt darüber hinaus noch, dass das jeweilige Verhalten geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Union zu beeinträchtigen. Dieses Tatbestandsmerkmal bestimmt auch das Verhältnis von § 1 GWB und Art. 101 AEUV: Handelt es sich um ein Kartell ohne Zwischenstaatlichkeitsbezug, ist nur das GWB anwendbar. Liegt der Zwischenstaatlichkeitsbezug hingegen vor, müssen die nationalen Behörden und Gerichte zwingend auch Art. 101 AEUV anwenden (s. § 22 Abs. 1 Satz 2 GWB, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003). In Kollisionsfällen geht das Unionsrecht dem nationalen Recht nach dem allgemeinen Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts vor. Dies ist in Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003 und § 22 Abs. 2 GWB ausdrücklich geregelt.
Rz. 4
Eine Vereinbarung bzw. eine Verhaltensweise beeinträchtigt den zwischenstaatlichen Handel, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass sie den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell in einem der Erreichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteiligen Sinne beeinflussen kann. Auch wenn eine Absprache nur die Vermarktung von Produkten in einem einzigen Mitgliedstaat bezweckt, kann eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegen. Dies liegt daran, dass auf einem für Einfuhren durchlässigen Markt die Teilnehmer an einer nationalen Preisabsprache ihren Marktanteil nur wahren können, wenn sie sich gegen ausländische Konkurrenz schützen und somit gerade zwischenstaatlichen Handel verhindern. Da eine potenzielle Beeinflussung ausreicht, muss nicht nachgewiesen werden, dass der Handel tatsächlich beeinträchtigt wurde.
Rz. 5
Die tatsächliche oder potenzielle Beeinträchtigung darf nicht nur geringfügig, sondern muss spürbar sein. Die Kommission geht in ihren "Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in Art. 81 und 82 des Vertrags" (heute Art. 101 und Art. 102 AEUV) davon aus, dass Vereinbarungen grds. nicht geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen, wenn der gemeinsame Marktanteil der Beteiligten auf keinem von der Vereinbarung betroffenen relevanten Markt innerhalb der Union 5 % überschreitet und im Fall horizontaler Vereinbarungen der gesamte Jahresumsatz der beteiligten Unternehmen innerhalb der Union mit den von der Vereinbarung erfassten Waren nicht den Betrag von 40 Mio. EUR überschreitet. Im Fall vertikaler Vereinbarungen darf der Jahresumsatz des Lieferanten mit den von der Vereinbarung erfassten Waren in der Union nicht den Betrag von 40 Mio. EUR überschreiten (zum Begriff der horizontalen bzw. vertikalen Vereinbarung s.u. Rdn 25wund Rdn 48 ff.).