Rz. 262
Eigenart des niederländischen materiellen Erbrechts seit der 2003 in Kraft getretenen Erbrechtsreform ist die starke Stellung des überlebenden Ehegatten. Vor der Reform stand entsprechend dem aus Frankreich übernommenen Modell des Code Napoléon die Erbfolge zugunsten der Kinder im Vordergrund. Die Neuregelung dagegen basiert auf dem in der notariellen Gestaltungspraxis mit Billigung durch die Gerichte herausgebildeten Modell der "elterlichen Nachlassteilung". Der Gesetzgeber hat auf diese Weise die niederländische Version des "Berliner Testaments" zum Modell der gesetzlichen Erbfolge erhoben.
In erster Ordnung erben die Abkömmlinge und der Ehegatte (soweit die Eheleute nicht gerichtlich getrennt sind) zu gleichen Teilen. Dem Ehegatten gleichgestellt sind der gleichgeschlechtliche Ehegatte (Art. 1:30 B.W.) und der Lebenspartner aus einer registrierten Lebenspartnerschaft (Art. 4:8 B.W.). Der überlebende Ehegatte erhält nach Auseinandersetzung der Gütergemeinschaft ein sog. besonderes gesetzliches Erbrecht. Damit erwirbt er den gesamten Nachlass zu Eigentum. Die Kinder erhalten dem Wert ihres Erbteils entsprechende verzinsliche Geldforderungen gegen den Ehegatten, die erst mit dem Tode des Ehegatten fällig werden. Auf diese Weise erhält der überlebende Ehegatte faktisch die Position eines Alleinerben bzw. eines alleinigen Vorerben. Bei Wiederverheiratung des Ehegatten, seinem Tod oder in dem Fall, dass der Ehegatte nicht Elternteil (also Stiefelternteil) der Kinder ist, können die Kinder des Erblassers Klage auf Übertragung von einzelnen Nachlassgegenständen erheben, damit zumindest ihre Erwartung auf konkrete Nachlassgegenstände aus dem Nachlass des verstorbenen Elternteils gesichert wird (Art. 4:19 – 4:22 B.W.)
Rz. 263
Das Pflichtteil(legitieme portie) ist Geldanspruch und entspricht der Hälfte des gesetzlichen Erbteils, Art. 4:64 B.W. Es steht allein Abkömmlingen zu. Sie können das Pflichtteil gegen den Ehegatten – wie das gesetzliche Erbrecht im Rahmen des "besonderen gesetzlichen Erbrechts" des Ehegatten – nicht vor dessen Ableben geltend machen. Das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge wird also durch das "besondere gesetzliche Erbrecht" des überlebenden Ehegatten weitgehend ausgehöhlt.
Rz. 264
Der Erblasser kann diese Begünstigung des Ehegatten noch ausweiten, indem er testamentarisch die Gestaltungsrechte der Kinder gegenüber dem überlebenden Ehegatten einschränkt oder ganz ausschließt, die Verzinsung des Geldanspruch ausschließt etc. (vgl. dazu unten Rdn 262). Darüber hinaus kann der Erblasser seinen Ehegatten zum Alleinerben einsetzen und anordnen, dass die Pflichtteilsansprüche der Kinder nicht vor Ableben des überlebenden Ehegatten fällig werden. Allein minderjährige und der in Ausbildung befindliche (bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres) Kinder können hier noch Unterhaltsleistungen verlangen.
Rz. 265
Gestaltungshinweis:
Für den Fall, dass der Erblasser seinen überlebenden Ehegatten weitestgehend begünstigen möchte, ergibt sich daraus in deutsch-niederländischen Konstellationen regelmäßig die Empfehlung, die Geltung deutschen Rechts möglichst weitgehend zu verhindern:
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Ein in Deutschland lebender Ehegatte mit niederländischer Staatsangehörigkeit kann durch ausdrückliche Wahl niederländischen Heimatrechts gem. Art. 22 EuErbVO die Geltung der niederländischen Regeln über das Ehegattenerbrecht sicherstellen. |
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Ein in den Niederlanden lebender deutscher Staatsangehöriger kann durch ausdrückliche "negative Rechtswahl" ausschließen, dass seine Kinder in Deutschland Pflichtteilsansprüche nach deutschem Recht unter der Behauptung einklagen, das als "Berliner Testament" errichtete Testament enthalte eine "konkludente Rechtswahl zugunsten des deutschen Rechts". |
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Soll die Erbeinsetzung in Form eines gemeinschaftlichen Testaments erfolgen, so kann die Zulässigkeit der gemeinschaftlichen Testamentserrichtung nach bisheriger Ansicht auch bei Geltung niederländischen Errichtungsstatuts (Art. 24 Abs. 1 EuErbVO) dadurch erreicht werden, dass die Ehegatten das Testament in Deutschland in der deutschen Ortsform errichten (Art. 1 Abs. 1 lit. a Haager Testamentsformabkommen). Ob das auch noch unter der EuErbVO gilt, ist noch nicht abschließend geklärt. Vorsichtshalber kann bei Vorliegen einer deutschen Staatsangehörigkeit auf Seiten beider Ehegatten deutsches Errichtungsstatut gem. Art. 24 Abs. 2 EuErbVO gewählt werden (kleine Rechtswahl). Wichtig ist hier die Beschränkung der Rechtswahl auf die Wirksamkeit des Testaments und der ausdrückliche Ausschluss der Erbfolge und der Wirkungen des Testaments von der Rechtswahl. |
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Sollte die Einsetzung in Form eines Erbvertrags erfolgen, so kann auch dies bei deutscher Staatsangehörigkeit des jeweiligen Ehegatten durch Rechtswahl gem. Art. 25 Abs. 3 EuErbVO erfolgen. Wichtig ist hier, dass im Vergleich zu Art. 24 Abs. 2 EuErbVO es beim gegenseitigen Erbvertrag genügt, dass auf Seiten eines einzigen der Ehegatten eine deutsche Staatsangehörigk... |