Rz. 445

Das vom BAG (vgl. BAG v. 7.2.2019 – 6 AZR 75/18, juris) neu entwickelte und mit BAG-Urteil (v. 24.2.2022 – 6 AZR 333/21, juris) bestätigte Gebot fairen Verhandelns schützt – unterhalb der Schwelle der von §§ 105, 119 ff. BGB erfassten Willensmängel – die Entscheidungsfreiheit bei Vertragsverhandlungen. Es geht um das Gebot eines Mindestmaßes an Fairness im Vorfeld des Vertragsschlusses für den Aufhebungsvertrag. Der Inhalt der Rücksichtnahmepflichten kann nicht in einem abschließenden Katalog benannt werden, sondern letztlich ist die konkrete Situation im jeweiligen Einzelfall am Maßstab des § 241 Abs. 2 BGB zu bewerten und von einer bloßen Vertragstreue abzugrenzen.

 

Rz. 446

 

Hinweis

Das BAG nennt folgende Beispiele/Konstellationen:

Eine Verhandlungssituation ist erst dann als unfair zu bewerten, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht. Dies kann durch die Schaffung besonders unangenehmer Rahmenbedingungen, die erheblich ablenken oder sogar den Fluchtinstinkt wecken, geschehen.
Denkbar ist auch die Ausnutzung einer objektiv erkennbaren körperlichen oder psychischen Schwäche oder unzureichender Sprachkenntnisse (vgl. zustimmend LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 19.5.2020 – 5 Sa 173/19; kritisch Fischinger, NZA 2020, 516 f.).
Die Nutzung eines Überraschungsmoments kann ebenfalls die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners beeinträchtigen (Überrumpelung).

(vgl. BAG v. 7.2.2019 – 6 AZR 75/18, juris Rn 34)

Ob ein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns gegeben ist, ist anhand der Gesamtumstände der konkreten Verhandlungssituation im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, stellt für sich genommen keine Pflichtverletzung gem. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB dar, auch wenn dies dazu führt, dass dem Arbeitnehmer weder eine Bedenkzeit verbleibt noch der Arbeitnehmer erbetenen Rechtsrat einholen kann (vgl. BAG v. 24.2.2022 – 6 AZR 333/21, juris). In dem Entscheidungsfall des BAG fehlte es an der Widerrechtlichkeit der behaupteten Drohung. Damit lag kein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns vor (vgl. BAG v. 24.2.2022 – 6 AZR 333/21, juris).

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