I. Kein schweres Verschulden bzw. Augenblicksversagen
1. Übersehen von Verkehrsschildern
Rz. 34
Der Regeltatbestand ist nur erfüllt, wenn sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht ein grober Pflichtenverstoß festgestellt werden kann. Beides wird durch § 4 Abs. 1 S. 1 BKatVO indiziert, so dass, zumal eine konkrete Gefährdung nicht vorausgesetzt wird, kaum Fälle denkbar sind, in denen ein solcher Verstoß nicht zumindest objektiv grob fahrlässig ist, auch dann nicht, wenn ein schwaches Verkehrsaufkommen geherrscht hat (BayObLG NZV 1994, 327).
Dennoch verneint das OLG Saarbrücken (NZV 1993, 38) z.B. im Fall des Überschreitens einer wegen Arbeiten an einer über die Autobahn führenden Brücke angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkung bereits einen objektiv schweren Verstoß, weil die Baustelle nicht besetzt und darüber hinaus die Messung noch nachts bei schwachem Verkehrsaufkommen durchgeführt worden war.
Häufiger sind jedoch Fälle, in denen ein subjektiv grober Verstoß nicht bejaht werden kann: Insoweit darf auf die allgemeinen Ausführungen zum Augenblicksversagen (siehe Rdn 28 ff.) verwiesen werden.
2. Überraschend auftauchende Verkehrszeichen
Rz. 35
Ein Kraftfahrer muss die Chance haben, mit einer normalen Bremsung die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten zu können. Vor allem auf Landstraßen darf eine Geschwindigkeitsbeschränkung deshalb nicht völlig überraschend eingerichtet werden. War dies dennoch der Fall, liegt – wenn überhaupt – kein schweres Verschulden vor (OLG Saarbrücken zfs 1987, 30; OLG Stuttgart VRS 95, 441; OLG Karlsruhe NZV 2006, 325).
3. Fehldeutung eines Verkehrszeichens
Rz. 36
Unbeachtlich sind Verkehrszeichen nur in den seltenen Fällen ihrer Nichtigkeit (OLG Hamm zfs 2011, 107; OLG Celle DAR 2011, 597). Sie müssen aber so angebracht sein, dass der Kraftfahrer ihre Bedeutung mit nur einem beiläufigen Blick erfassen kann (BVerwG DAR 2008, 656; OLG Jena DAR 2011, 37). War dies nicht der Fall, sind sie ebenso unwirksam, wie wenn sie teilweise (z.B. durch Zweige) verdeckt und deshalb in ihrer leichten Erkennbarkeit beeinträchtigt sind (OVG Münster NZV 2005, 335). Eine unzweckmäßige oder gar irreführende Gestaltung kann das Verschulden, wenn nicht gar gänzlich entfallen lassen, so zumindest mindern (OLG Jena DAR 2011, 37; OLG Bamberg DAR 2012, 475).
Das kann auch dann der Fall sein, wenn der Betroffene über die rechtliche Bedeutung eines Verkehrsschildes im Irrtum war, so z.B. angenommen hat, ein geschwindigkeitsbeschränkendes Schild sei (da ein zweiteiliges Schild in aufgeklapptem Zustand einen waagerechten Streifen zu haben schien) ohne Bedeutung.
In einem solchen Fall kann der Vorwurf eines groben Verschuldens nur dann gemacht werden, wenn die Fehldeutung selbst auf grobe Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit zurückzuführen ist (BayObLG DAR 2000, 172; zfs 2003, 472). Dagegen spielt der Grund für die Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung – hier Lärmschutz – bei der Beurteilung der Schwere des Pflichtenverstoßes ebenso wenig eine Rolle (OLG Karlsruhe NZV 2004, 369; KG NZV 2005, 596; OLG Bamberg DAR 2007, 94) wie die Frage der sachlichen Angemessenheit der angeordneten Beschränkung (OLG Düsseldorf NZV 1996, 372; OLG Celle DAR 2011, 597).
4. Ortsschild
a) Nicht im Zusammenhang mit bebauter Ortslage
Rz. 37
Vor allem in Fällen, in denen das Ortseingangsschild nicht unmittelbar im Bereich der bebauten Ortslage steht, kann nicht ohne Weiteres grobe Fahrlässigkeit angenommen werden (OLG Brandenburg zfs 1997, 434; OLG Dresden zfs 2006, 52). Das gilt erst recht, wenn die Ortsschilder nicht wie vorgeschrieben aufgestellt worden waren und der Fehler der Verwaltung den Verstoß begünstigt hat (BayObLG zfs 1998, 234).
Rz. 38
Achtung: Urteilsgründe
Wendet der Betroffene ein, er habe das Ortseingangsschild nur deshalb übersehen, weil dort keine zusammenhängende Bebauung vorhanden gewesen sei, muss das Gericht im Urteil die Bebauung näher beschreiben, wenn es ihm zur Last legen will, er habe die geschlossene Ortschaft an der Bebauung erkennen können (OLG Stuttgart zfs 1999, 81).
b) Messung kurz hinter dem Ortsschild
Rz. 39
Ein grober Verstoß kann meist dann nicht angenommen werden, wenn die Messung unmittelbar hinter dem Ortseingangsschild durchgeführt wurde (OLG Dresden DAR 2010, 29; OLG Stuttgart DAR 2011, 220; OLG Oldenburg zfs 2014, 353; OLG Frankfurt DAR 2016, 395).
c) Messung kurz vor der Ortsausfahrt
Rz. 40
Die Tatsache, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einer gut ausgebauten Ausfallstraße nur ca. 100 m vor dem Ortsausgangsschild und nur um 1 km/h oberhalb der mit einem Regelfahrverbot zu ahndenden Grenze überschritten wurde, ist nach Auffassung des OLG Düsseldorf (DAR 1997, 408) kein Grund, von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen. Gegenteiliger Auffassung sind das BayObLG (zfs 2003, 42) und das OLG Stuttgart (DAR 2011, 220), das jetzt im Hinblick auf die zwischenzeitlich in Baden-Württemberg geänderten Richtlinien davon abgerückt ist (OLG Stuttgart DAR 2011, 599).
5. Toleranzstrecken
Rz. 41
Grundsätzlich ist die zulässige Geschwindigkeit bereits ab dem ersten die Geschwindigkeit begrenzenden Schild einzuhalten, dennoch schreiben die jeweiligen Polizeirichtlinien der Länder (siehe hierzu § 20 Rdn 19 ff.) Toleranzstrecken vor, in denen Geschwindigkeitsmessungen nicht ...