1. Zwecke und Wechselwirkungen
Rz. 17
Situative oder turnusmäßige Bewertungsanlässe ergeben sich i.d.R. aus gesetzlichen Bestimmungen, vertraglichen Vereinbarungen/einseitigen Verfügungen oder Informationsbedürfnissen für Planungs-, Entscheidungs- oder Kontrollzwecke und gehen nicht nur mit unterschiedlichen Vereinfachungs- und Objektivierungserfordernissen bei der Wertermittlung, sondern auch mit unterschiedlichen Wertbegriffen einher.
Für einen bestimmten Bewertungsanlass können zunächst unterschiedliche Wertbegriffe zweckmäßig sein, und andersherum kann bspw. der sog. Verkehrswert (Marktwert) für unterschiedliche Bewertungsanlässe als Bewertungsgrundlage zweckmäßig sein.
Zum Beispiel kommt als Bemessungsgrundlage für die Besteuerung einer Erbschaft von Immobilienvermögen der Grundbesitzwert im Sinne eines typisierten und pauschalierten gemeinen Werts oder ggf. der niedrigere gemeine Wert i.S.d. individuell ermittelten Marktwerts in Betracht; und eine Finanzierungsentscheidung kann sich grundsätzlich auf den Markt- oder den Beleihungswert stützen.
Rz. 18
Neben der Berechnung der Erbschaftsteuer gehören Berechnungen von Ausgleichungen bei Teilungsanordnung, Pflichtteil und Pflichtteilsergänzungen sowie Auseinandersetzungen der Erbengemeinschaft, Vorausempfänge ggf. unter Berücksichtigung eines Nießbrauchs/Wohnrechts des Erblassers zu den typischen Bewertungsanlässen im Rahmen erbrechtlicher Mandate. Dabei stehen regelmäßig hohe Objektivierungsbedürfnisse der Erben im Vordergrund.
In den eher massenhaften Fällen der Besteuerung treten allerdings gewisse Vereinfachungsbedürfnisse der Finanzverwaltung dazu, weshalb hier mitunter pauschalierte Modellansätze Anwendung finden, wodurch – trotz gewisser Ähnlichkeiten der Verfahren nach BewG zur individuellen Wertermittlung nach ImmoWertV – im Ergebnis erhebliche Abweichungen vom individuell ermittelten Marktwert auftreten können. Das gilt im Prinzip nicht nur für die steuerlichen Einheits-, sondern auch die Bedarfswerte.
Außerdem werden in der steuerlichen Bewertung nach § 176 Abs. 2 BewG bestimmte Bestandteile des Grundvermögens und nach § 177 Abs. 4 BewG Besonderheiten im Grundsatz nicht berücksichtigt.
2. Verkehrswert (Marktwert) und Grundbesitzwert (gemeiner Wert)
Rz. 19
Im Gegensatz zu Urteilen über ethische Werte sind ökonomische Werte keine Wert-, sondern Seinsurteile, d.h. zu beobachtende Feststellungen über den Tauschwert von Wirtschaftsgütern. Nach der modernen Werttheorie ergibt sich der Tauschwert aus dem Verhältnis von relativer Seltenheit (Knappheit) und subjektivem Gebrauchswert, also aus Angebot und Nachfrage, und kann somit durch seinen Marktpreis beziffert werden. Darin ist der einzige objektiv ermittelbare Wert zu sehen.
Die Marktwertermittlung ist dem Prinzip der Objektivität, nicht der Rationalität verpflichtet. Eine Objektivierung wird grundsätzlich durch Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit erreicht. Märkte können Vermögensgegenstände wie Immobilien durchaus "über- oder unterbewerten". Der Marktwert sollte jedoch in dem Sinne objektiviert sein, dass entsprechende Preise im Markt zu beobachten sind, wenn Transaktionen stattfinden. "Objektiv" bedeutet also nicht etwa "sachverständig angemessen", sondern "wie im Markt zu beobachten" – auch wenn dem Sachverständigen das Marktgeschehen am Bewertungsstichtag irrational erscheinen mag.
Rz. 20
Die Legaldefinition des Verkehrswertes (Marktwertes) ergibt sich aus § 194 BauGB:
Zitat
Der Verkehrswert (Marktwert) wird durch
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den Preis bestimmt, der |
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in dem Zeitpunkt, auf den sich die Ermittlung bezieht, |
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im gewöhnlichen Geschäftsverkehr |
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nach den rechtlichen Gegebenheiten und tatsächlichen Eigenschaften, der sonstigen Beschaffenheit und der Lage des Grundstückes oder des sonstigen Gegenstands der Wertermittlung |
▪ |
ohne Rücksicht auf ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse |
zu erzielen wäre.
Verkehrswert und Marktwert sind Synonyme, wie durch das EAG Bau klargestellt wurde, und dem "wahren", "inneren", "wirklichen" oder schlicht "Wert" des Grundstücks gleichzusetzen. Nach h.M. ist dieser Wertbegriff materiell identisch mit dem "vollen Wert" i.S.d. Bundes- und Landeshaushaltsordnungen sowie international gebräuchlichen Definitionen sowohl des "Market Value" nach dem EU-Recht und diversen zivilrechtlichen Organisationen als auch des "Fair Value" gemäß International Financial Reporting Standards (IFRS).
Rz. 21
Auch zwischen Verkehrswert (Marktwert) und gemeinem Wert besteht trotz unterschiedlichen Wortlauts in § 9 Abs. 2 BewG zunächst Bedeutungsgleichheit:
Zitat
Der gemeine Wert wird durch
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den Preis bestimmt, der |
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im gewöhnlichen Geschäftsverkehr |
▪ |
nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes |
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bei einer Veräußerung |
zu erzielen wäre. Dabei sind
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alle Umstände, die den Preis beeinflussen, zu berücksichtigen. |
▪ |
Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse sind nicht zu berücksichtigen. |
Rz. 22
Nach § 177 Abs. 1 BewG ist den erbschaftsteuerlichen Bewertungen von Grundbesitz zunächst der gemeine Wert i.S.d. § 9 BewG zugrunde zu legen, wobei möglichst Marktdaten, die vom lokalen Gutachteraussch...