Rz. 374
Ein Pflichtangebot muss nach § 35 Abs. 3 WpÜG dann nicht abgegeben werden, wenn die Kontrolle an der Zielgesellschaft aufgrund eines Übernahmeangebots erworben wurde (§ 35 Abs. 3 WpÜG).
Rz. 375
Dieser Regelung liegt die Überlegung zugrunde, dass für Übernahmeangebote und Pflichtangebote grds. die gleichen Vorschriften – insb. im Hinblick auf die anzubietenden Mindestpreise – gelten. Eine "befreiende Wirkung" des Übernahmeangebots im Hinblick auf ein nachfolgendes Pflichtangebot ist daher gerechtfertigt, wenn das Übernahmeangebot inhaltlich und verfahrensmäßig den Vorgaben der §§ 29–34 WpÜG entspricht. Davon ist bei einem von der BaFin genehmigten Übernahmeangebot grds. auszugehen.
Rz. 376
Entscheidende Bedeutung kommt bei § 35 Abs. 3 WpÜG in der Praxis dem Tatbestandsmerkmal "auf Grund" zu. Dieses ist nicht i.S.e. strengen Kausalitätserfordernisses zu verstehen. Die Kontrolle wird auch dann aufgrund eines Übernahmeangebots erlangt, wenn sie im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Angebot, bspw. aufgrund eines Paketkaufvertrags oder infolge einer Umwandlungsmaßnahme, erworben wird.
Rz. 377
Der erforderliche zeitliche und sachliche Zusammenhang wird dann angenommen, wenn die Kontrolle erworben wird, nachdem der Bieter die Entscheidung zur Abgabe eines Übernahmeangebots nach § 10 Abs. 1 Satz 1 WpÜG veröffentlicht hat und bevor die Annahmefrist abgelaufen ist. Zudem erkennt die BaFin die Befreiungswirkung des § 35 Abs. 3 WpÜG auch dann noch an, wenn der Kontrollerwerb nach Ablauf der Annahmefrist in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Vollzug des Übernahmeangebots erfolgt.
Beispiel: Vermeidung eines Pflichtangebots durch Abgabe eines freiwilligen Übernahmeangebots
Die börsennotierte A-AG schließt einen Paketkaufvertrag über 75 % der stimmberechtigten Aktien der börsennotierten P-AG. Zeitgleich mit der Information des Kapitalmarkts über den Abschluss des Paketkaufvertrags nach Art. 17 Abs. 1 MMVO veröffentlicht die A-AG die Entscheidung zur Abgabe eines freiwilligen Übernahmeangebots nach § 10 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. Im Einzelfall kann trotz der Regelung in § 10 Abs. 6 WpÜG eine separate Ad-hoc-Mitteilung des Bieters erforderlich sein (s.o. Rdn 268). Sowohl der Paketkaufvertrag als auch das Übernahmeangebot stehen unter der aufschiebenden Bedingung der kartellrechtlichen Freigabe. Wird die kartellrechtliche Freigabe nach Ablauf der Annahmefrist erteilt (s.o. Rdn 284), werden sowohl der Paketkaufvertrag als auch das Übernahmeangebot in engem zeitlichen Zusammenhang vollzogen. Die Befreiungswirkung des § 35 Abs. 3 WpÜG tritt ein.
Rz. 378
Die "Vermeidung" eines Pflichtangebots durch Abgabe eines freiwilligen Übernahmeangebots hat einen ganz entscheidenden Vorteil: Für die Bestimmung des anzubietenden Mindestpreises gelten für Übernahme- und Pflichtangebote nach § 5 WpÜG-AngebotsVO unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Bei einem Übernahmeangebot ist der Mindestangebotspreis auf der Grundlage des Dreimonatszeitraums vor Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots nach § 10 Abs. 1 Satz 1 WpÜG zu berechnen. Hingegen bestimmt sich der Mindestangebotspreis bei einem Pflichtangebot auf der Grundlage des Dreimonatszeitraums vor Veröffentlichung der tatsächlichen Kontrollerlangung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG.
Hätte die A-AG in dem vorgenannten Beispiel kein freiwilliges Übernahmeangebot abgegeben, sondern zunächst den Kontrollerwerb auf der Grundlage des Paketkaufvertrags abgewartet, wäre der Mindestangebotspreis i.R.d. nachfolgenden Pflichtangebots für die A-AG nicht kontrollierbar. Es bestünde das Risiko, dass Anleger in Erwartung des öffentlich bekannten Kontrollwechsels Aktien der P-AG erwerben und damit den Aktienkurs der P-Aktie in die Höhe treiben. Dadurch würde sich das abzugebende Pflichtangebot erheblich verteuern und die wirtschaftliche Grundlage der Transaktion infrage gestellt.