Dr. iur. Klaus Rinck, Dr. iur. Rupert Czinczoll
Rz. 69
Unabhängig davon, dass die Berufungsbegründung die Zulässigkeitshürde nehmen muss, entscheidet ihr Inhalt aufgrund ihrer zentralen prozessualen Funktion für das Rechtsmittelverfahren zumeist über Erfolg oder Misserfolg der Berufung. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils in Gänze ernst zu nehmen und auch darauf zu achten, was ggf. "zwischen den Zeilen" zu lesen ist. So enthalten die Urteile des Arbeitsgerichts bisweilen Andeutungen von "Was wäre wenn"-Charakter. Sie sind mitunter versteckt in Wendungen, die mit "es kann dahingestellt bleiben, ob" o.ä. beginnen. Dahinter verbergen sich gelegentlich Hinweise für die unterlegene Partei, die der Berufungsführer ernst nehmen und für sich nutzbar machen sollte.
Rz. 70
Nicht selten scheitern Parteien erstinstanzlich daran, dass sie den Sachverhalt, der ihre Rechtsposition untermauern könnte, nicht substantiiert genug darstellen. So muss z.B. der Arbeitgeber, der aufgrund von anhaltendem Auftragsmangel Stellen reduziert, bei der betriebsbedingten Kündigung nicht nur und nicht einmal in erster Linie den Auftragsmangel darstellen, sondern dem Gericht vor allem plausibel machen, wie er ganz konkret die weiterhin anfallenden Arbeiten im Vergleich zu früher mit verringertem Personalbestand bewältigen will. Führt das erstinstanzliche Urteil aus, der Sachvortrag der unterlegenen Partei sei in bestimmter Hinsicht unsubstantiiert gewesen, sollte der Berufungsführer sich keinesfalls darauf beschränken, diese Aussage als solche anzugreifen, sondern versuchen, der Urteilsrüge Rechnung zu tragen und die verlangte Konkretisierung nachzuholen.
Rz. 71
Nicht selten reicht es aber auch nicht aus, nur die arbeitsgerichtliche Argumentation zu widerlegen, um dem eigenen Begehren zum Erfolg zu verhelfen.
Geht es z.B. in einem Kündigungsschutzprozess zunächst in erster Linie darum, ob das KSchG im Hinblick auf eine ausreichende Anzahl von Beschäftigten gem. § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG überhaupt Anwendung findet, so tut der erstinstanzlich unterlegene Arbeitgeber gut daran, nicht nur dagegen zu argumentieren, sondern zugleich auch die sachlichen Kündigungsgründe, soweit vorhanden, möglichst so darzustellen, dass sie vor § 1 Abs. 2 KSchG Bestand haben können. Kommt nämlich auch das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass das KSchG anwendbar ist, kann er nicht damit rechnen, dass ihm zur sachgerechten Rechtfertigung seiner Kündigung noch eine Frist zu weiterem Vortrag gewährt wird.
Entsprechendes gilt, wenn – bei unstreitig anwendbarem KSchG – der Kläger schon erstinstanzlich beachtliche Einwände gegen die in der Klageerwiderung dargelegte Kündigungsbegründung erhoben hat, der Rechtsstreit sich dann aber zunächst auf Formalien wie z.B. die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats fokussiert hat. Auch wenn das Arbeitsgericht sein klagestattgebendes Urteil nur auf die seiner Ansicht nach fehlerhafte Betriebsratsanhörung gestützt hat, reicht es nicht aus, in der Berufungsbegründung nur hierauf einzugehen. Vielmehr wird die Berufung nur Aussicht auf Erfolg haben können, wenn in der Berufungsbegründung auch die Ausführungen zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung dem aktuellen Streitstand entsprechend ausreichend ergänzt werden.
Rz. 72
Schwierig ist es erfahrungsgemäß auch, die Wiederholung einer erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz zu erreichen. Hierzu ist es erforderlich aufzuzeigen, dass die erstinstanzliche Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unvollständig oder aus anderen Gründen logisch nicht nachvollziehbar ist. Denkbar ist es auch, Tatsachen vorzutragen, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit der gegnerischen Zeugen in Zweifel zu ziehen. Will das Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders beurteilen als die 1. Instanz, ist es jedenfalls gehalten, den Zeugen erneut zu vernehmen.
Rz. 73
Bezugnahmen auf den eigenen – oder auch den gegnerischen – Sachvortrag erster Instanz sollten nicht pauschal, sondern nur konkret vorgenommen werden und haben stets Schriftsatz und Seitenzahl des erstinstanzlichen Vorbringens und eine in Bezug genommene Anlage exakt zu bezeichnen. Das Berufungsgericht ist nämlich nicht verpflichtet, sich aus einem Konglomerat oft umfangreichen erstinstanzlichen Vorbringens – Berufungsakten sind regelmäßig mehrere hundert Seiten stark – selbst herauszusuchen, was dem Berufungsführer günstig sein könnte.
Rz. 74
Praxishinweis
Allgemein gilt: Die Berufungsbegründung muss auf den konkreten Einzelfall zugeschnitten sein und sich mit den Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. In keinem Fall reicht es aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen. Auch der pauschale Hinweis auf die Entscheidung eines anderen Gerichts reicht nicht aus. Der Mangel der nicht ordnungsgemäßen Begründung kann nach Ablauf der Berufu...