Dr. iur. Klaus Rinck, Dr. iur. Rupert Czinczoll
Rz. 96
Die herrschende Meinung in Rspr. und Literatur folgt zu Recht der sog. absoluten Theorie: Diese besagt, dass die Erledigung des Rechtsstreits immer dann verzögert wird, wenn das Verfahren bei Zulassung des Vorbringens länger dauert als bei seiner Zurückweisung. Das BVerfG hat die absolute Theorie nicht beanstandet, hält die Zurückweisung eines Vorbringens als verspätet im Einzelfall jedoch dann für verfahrensfehlerhaft, wenn sich sofort aufdrängt, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre.
Rz. 97
Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens kommt nicht in Betracht, wenn die Pflichtwidrigkeit der Partei nicht die alleinige Ursache für die Verzögerung darstellt. Das wird insbesondere dann als gegeben angesehen, wenn das Gericht seinerseits die drohende Verzögerung noch durch zumutbare prozessleitende Maßnahmen hätte auffangen können.
Rz. 98
Erforderlich ist ferner, dass eine Verzögerung des Rechtsstreits insgesamt eintritt. Ist z.B. der Rechtsstreit hinsichtlich einer Widerklage ohnehin nicht entscheidungsreif, kommt es nicht darauf an, ob ein verspätetes Vorbringen nunmehr auch die Erledigung der zuvor an sich entscheidungsreifen Klage verzögert.
Rz. 99
Nach wie vor streitig ist die Frage, ob die eintretende Verzögerung erheblich sein muss – und, falls ja, was unter Erheblichkeit zu verstehen ist. Geht man davon aus, dass die Berufungsgerichte i.d.R. im Wochenrhythmus terminieren, so dürfte jedenfalls bei einer Verzögerung um mehr als eine Woche die Anwendung der Verspätungsvorschriften gerechtfertigt sein, wenn die sonstigen Voraussetzungen gegeben sind.
Rz. 100
Vereinfacht kann die Verspätungsfrage für die Praxis auf den Nenner gebracht werden: Müsste der Rechtsstreit gerade wegen des verspäteten Vorbringens vertagt werden? Im Wesentlichen kommen zwei Ursachen für die Vertagungsnotwendigkeit in Betracht: a) Der Gegner kann sich nicht mehr rechtzeitig in zumutbarer Weise zu dem neuen Vorbringen einlassen; b) es wird eine Beweisaufnahme notwendig, deren Durchführung in dem anberaumten Termin nicht mehr möglich ist.
Rz. 101
Das Gesetz stellt dem Gericht ein reiches Arsenal an Verspätungsvorschriften zur Verfügung, bei deren Anwendung auf den Einzelfall jedoch teilweise diffizile Voraussetzungen zu beachten sind. Das führt leicht zu einer Gratwanderung zwischen dem Beschleunigungsgrundsatz einerseits und dem Recht auf faires Verfahren andererseits. Die Praxis der Landesarbeitsgerichte macht daher von den Verspätungsvorschriften wohl überwiegend einen zurückhaltenden Gebrauch und beschränkt die Präklusion i.d.R. auf recht klare Fälle.
Rz. 102
Zu bedenken bleibt bei alledem, dass § 97 Abs. 2 ZPO auch im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren gilt: Wer die Berufung aufgrund neu vorgebrachter Tatsachen gewinnt, die er auch schon erstinstanzlich hätte vorbringen können, riskiert, dass ihm die Kosten der zweiten Instanz auferlegt werden.