Rz. 72

Zentrale Bedeutung nicht nur für die Zulässigkeit eines Grundurteils, das – grundsätzlich – alle Fragen zum Anspruchsgrund erledigen muss (siehe oben Rdn 59 f.), sondern auch für die einem erlassenen Grundurteil im Betragsverfahren zukommende Bindungswirkung (siehe unten Rdn 163 ff.) hat die Frage, ob ein Umstand (auch) für den Anspruchsgrund oder (nur) für die Anspruchshöhe relevant ist.

 

Rz. 73

Ursprünglich verfolgte die Rechtsprechung die Tendenz, eine möglichst weitgehende Erledigung des Prozesses schon vor Erlass des Grundurteils zu fordern.[129] Die praktischen Bedürfnisse wiesen aber den Weg, vor allem den Parteien durch Erlass des Grundurteils recht bald eine Unterlage für Vergleichsverhandlungen zu bieten. So ist bereits das RG allmählich dazu übergegangen, bloße Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden zu lassen, sofern nur mit hinreichender Deutlichkeit aus den Urteilsgründen zu entnehmen ist, inwieweit entschieden ist und welche Streitfragen der Erledigung im Betragsverfahren vorbehalten bleiben sollen.[130]

 

Rz. 74

Für die Abgrenzung zwischen Grund- und Betragsverfahren und die Zuordnung einzelner Umstände zum jeweiligen Verfahren sind auch nach heutigem Verständnis nicht abstrakte dogmatische Erwägungen, sondern die Gesichtspunkte der Prozesswirtschaftlichkeit und der praktischen Brauchbarkeit entscheidend.[131]

 

Rz. 75

Die Zulässigkeit eines Grundurteils wird allgemein immer dann in Zweifel zu ziehen sein, wenn es unzweckmäßig und verwirrend ist, die Entscheidung über Grund und Betrag zu trennen, wenn das Grundurteil keine echte Vorentscheidung des Rechtsstreits ist oder wenn Zweifel über die mögliche Rechtskraftwirkung des Grundurteils entstehen können.[132]

 

Rz. 76

Auch wenn diese "weichen" Abgrenzungskriterien eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Frage schaffen, welche Umstände – zumindest auch – dem Anspruchsgrund zuzuordnen sind, und stets die Umstände des jeweiligen Einzelfalles beachtet werden müssen, gelten folgende Grundsätze:

[129] RG, Urt. v. 6.12.1928 – VI 229/28, RGZ 123, 6; RG, Urt. v. 21.1.1922 – I 199/21, RGZ 103, 406.
[130] BGH, Urt. v. 3.11.1978 – IV ZR 61/77, VersR 1979, 25.
[131] BGH, Urt. v. 28.6.2016 – VI ZR 559/14, NJW 2016, 1919 Rn 26; BGH, Urt. v. 23.9.1992 – IV ZR 199/91, NJW-RR 1993, 91; BGH, Urt. v. 13.5.1980 – VI ZR 276/78, VersR 1980, 867; OLG Oldenburg, Urt. v. 7.8.2018 – 2 U 30/18, NJW 2019, 1377 Rn 22 m.w.N.
[132] BGH, Urt. v. 28.6.2016 – VI ZR 559/14, NJW 2016, 1919 Rn 26 und 36; BGH, Urt. v. 11.1.1974 – I ZR 89/72, VersR 1974, 587 m.w.N.

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