Rz. 75
Für Insolvenz-Anfechtungsprozesse hat der BGH die Vermutung für das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit gebildet, wenn zum für die Anfechtung maßgeblichen Zeitpunkt fällige Verbindlichkeiten bestanden haben, die bis zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung nicht mehr beglichen wurden. Dies ist auch für die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO maßgeblich, da die InsO nach ständiger Rspr. des BGH nur einen einheitlichen Begriff der Zahlungsunfähigkeit kennt. Auf diese Weise wird der (frühere) Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit retrograd ermittelt. Hierfür wird vom Bestand der fälligen Verbindlichkeiten im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Feststellungen zur Insolvenztabelle) ausgegangen. Sodann werden die Fälligkeiten dieser Verbindlichkeiten bis zu ihrem frühesten Fälligkeitszeitpunkt zurückverfolgt. Schließlich wird unter Berücksichtigung der Verbindlichkeiten, die in der Zwischenzeit getilgt wurden, ermittelt, ab wann die 10 %-Grenze überschritten wurde, indem diesen sämtlichen fälligen Verbindlichkeiten die in den jeweiligen Zeitpunkten zur Verfügung stehenden liquiden Mittel gegenübergestellt werden. Soweit sich daraus ergibt, dass zu einem früheren Zeitpunkt die 10 %-Grenze überschritten wurde, begründet dies die Vermutung der Zahlungsunfähigkeit zu diesem früheren Zeitpunkt.
In der Entscheidung zur Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung vom 6.5.2021 hat der BGH diese Fortdauervermutung für den Fall erheblich eingeschränkt, dass sie auf der Nichtzahlung verhältnismäßig geringer Verbindlichkeiten beruht. Dann darf die Fortdauer der Zahlungsunfähigkeit nicht ohne Weiteres angenommen werden. Vielmehr muss der Insolvenzverwalter nun darlegen und ggf. beweisen, dass die Zahlungsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt (etwa der angefochtenen Handlung, § 133 InsO) oder der verbotenen Zahlung (§ 15b InsO) noch bestand. Auch im Folgenden hat der BGH die Fortdauervermutung weiter eingeschränkt: Wird die Verbindlichkeit, welche die Annahme einer Zahlungseinstellung des Schuldners trug, erfüllt oder gestundet, und will der Insolvenzverwalter die Vermutung der Fortdauer der Zahlungseinstellung für sich in Anspruch nehmen, ist unter dem Gesichtspunkt der sekundären Darlegungslast gehalten, zum Zahlungsverhalten des Schuldners im Übrigen, insbesondere zu weiterhin nicht bedienten Verbindlichkeiten des Schuldners vorzutragen.
Ansonsten hat der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Geschäftsführer die Vermutung durch genaue Darlegung konkreter Umstände zu widerlegen, die sich nachträglich geändert haben und aufgrund derer damals / ex ante annehmen durfte, dass die Gesellschaft rechtzeitig (innerhalb von 3 Wochen) wieder in der Lage sein werde, ihre fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen.
Für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit im Rahmen der Feststellung der Straftat Insolvenzverschleppung reicht hingegen die Feststellung, dass im Tatzeitraum einer möglichen Insolvenzverschleppung offene Verbindlichkeiten bestanden haben, die bis zur Insolvenzeröffnung nicht beglichen wurden, für die Annahme der Zahlungsunfähigkeit nicht aus.