Rz. 57
Nach ganz h.M. in der Lit. war das Kriterium der ernstlichen Einforderung mit Inkrafttreten der neuen Definition der Zahlungsunfähigkeit in § 17 InsO entfallen. Es komme nur noch auf die Fälligkeit der Verbindlichkeiten an.
Rz. 58
Dem ist der BGH entgegengetreten und hat entschieden: Eine Forderung ist i.d.R. dann i.S.d. § 17 Abs. 2 InsO fällig, wenn eine Gläubigerhandlung feststeht, aus der sich der Wille, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen, im Allgemeinen ergibt. Da grds. davon auszugehen ist, dass der Gläubiger die Bezahlung einer fälligen Forderung auch möchte, sind an diese Gläubigerhandlung nur sehr geringe Anforderungen zu stellen. Ausreichend, aber nicht erforderlich, ist bereits die Übersendung einer Rechnung. Auch wenn ein befristetes Darlehen durch Zeitablauf fällig geworden ist, ist es bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu berücksichtigen, selbst wenn der Gläubiger zur Zahlung noch nicht konkret aufgefordert hat.
Rz. 59
Forderungen hingegen, deren Gläubiger sich für die Zeit vor Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mit einer späteren oder nachrangigen Befriedigung einverstanden erklärt haben, sind bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht zu berücksichtigen, auch wenn keine rechtlich bindende Stundungsvereinbarung getroffen worden ist. Zur Begründung hat der BGH die Begründung zum RegE der InsO herangezogen, nach welcher für die Definition der Zahlungsunfähigkeit in § 17 InsO die Definition zugrunde gelegt worden sei, die sich in der Rspr. und Lit. für die Zahlungsunfähigkeit (nach der KO) durchgesetzt hat. Diese Rspr. hat der BGH sodann fortgesetzt: Eine Forderung, die früher ernsthaft eingefordert war, wird bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nicht berücksichtigt, wenn mit dem Gläubiger ein Stillhaltabkommen getroffen wurde, auch wenn dieses keine Stundungsvereinbarung im Rechtssinne ist. Forderungen, die rein tatsächlich – also ohne Rechtsbindungswillen oder erkennbare Erklärung – gestundet sind, bleiben bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Betracht. Beispiele können sein eine von der Bank geduldete Kontoüberziehung mit Berechnung des Überziehungszinssatzes hinsichtlich des Rückzahlungsanspruchs oder die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides durch das Finanzamt: für die Dauer der Vollziehungsaussetzung ist der Betrag nicht mehr ernsthaft eingefordert.
Rz. 60
Fazit
Fällige Forderungen bleiben bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nur dann unberücksichtigt, wenn sie mindestens rein tatsächlich, also auch ohne rechtlichen Bindungswillen oder ausdrückliche Erklärung, gestundet sind. Dafür ist eine Äußerung oder ein eindeutiges Handeln des Gläubigers erforderlich; bloßes Schweigen oder bloß unterlassene Mahnung oder Vollstreckung reichen nicht für die Annahme, der Gläubiger fordere nicht mehr ernstlich ein. In jedem Fall sollten zur Prophylaxe gegen evtl. spätere Insolvenzverschleppungsvorwürfe die Stillhalteerklärung des Gläubigers oder die Umstände, aus denen sich konkludent das Stillhalten ergibt, genau dokumentiert werden.
Rz. 61
Im Hinblick auf das Merkmal der ernsthaften Einforderung stellt sich die weitere Frage, ob Forderungen, für die zwischen Gläubiger und Schuldner wirksam der Nachrang vereinbart ist (Rangrücktritt), bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen sind. Das ist streitig. Jedenfalls wirken sich Nachrangvereinbarungen auf die zivilrechtliche Fälligkeit nicht aus, insbesondere sind sie keine Stundungen. Der bloße Rangrücktritt nach § 39 Abs. 2 InsO dürfte allein keine vorinsolvenzliche liquiditätsbezogene Durchsetzungssperre begründen, hindert die Fälligkeit einer Forderung i.S.d. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO also nicht.
Es müsste sich also aus der Nachrangabrede – ggf. durch Auslegung – zusätzlich ergeben, dass die Forderung derzeit nicht ernsthaft eingefordert ist. Wird der Nachrang entsprechend dem Wortlaut des § 39 Abs. 2 InsO lediglich "im Insolvenzverfahren" vereinbart (einfacher Rangrücktritt), kann die derzeitige ernsthafte Einforderung bestehen bleiben. Erforderlich ist also ein Rangrücktritt, der bereits vorinsolvenzlich auch auf die Fälligkeit bzw. ernsthafte Einforderung wirkt (zeitlich qualifizierter Rangrücktritt). Zur Vermeidung dieser Zweifelsfragen sollte zur Sicherheit zugleich eine Stundung oder das Stillhalten ausdrücklich vereinbart werden.