Rz. 743
Der Geschäftsführer der GmbH befindet sich in der Krise der Gesellschaft in einem Dilemma: Einerseits darf er nach Einritt der Zahlungsunfähigkeit keine Zahlungen mehr leisten, andererseits kann er sich bei Nichtabführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung persönlich haftbar und strafbar machen. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist eine unrühmliche Geschichte sich widersprechender Entscheidungen verschiedener oberster Gerichtshöfe des Bundes, die hier aus Platzgründen nicht nacherzählt zu werden braucht.
Rz. 744
Endlich hat der BGH in seiner Entscheidung v. 14.5.2007 zivilrechtlich Klarheit geschaffen: Ein organschaftlicher Vertreter, der bei Insolvenzreife der Gesellschaft den sozial- und steuerrechtlichen Normbefehlen folgend Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung und Lohnsteuer abführt, handelt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes und ist nicht nach § 64 Abs. 2 GmbHG a.F. erstattungspflichtig. Zur Begründung hat er zutreffend auf die Einheit der Rechtsordnung verwiesen. Dabei ist der BGH trotz Kritik (s. sogleich) auch in nachfolgenden Entscheidungen geblieben: Der Geschäftsführer haftet nicht nach § 64 Satz 1 GmbHG a.F., wenn er nach Eintritt der Insolvenzreife rückständige Umsatz- und Lohnsteuer an das Finanzamt und rückständige Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung an die Einzugsstelle zahlt. Das gilt auch für Zahlungen nach Ablauf der Insolvenzantragsfrist.
Rz. 745
Kritisiert wurden und werden diese Entscheidungen mit der Begründung, sie privilegieren die Sozialkassen bzw. den Fiskus unter den Insolvenzgläubigern nach § 38 InsO. Zwar sei richtig und notwendig, die Geschäftsleiter von dem Haftungsdilemma freizuhalten. Eine Pflichtenkollision bestehe jedoch gar nicht erst, wenn ab Eintritt der Insolvenzreife die Beitragsabführungspflicht endete. Auch könne am Zahlungsbegriff des § 64 GmbHG a.F. angesetzt werden: eine Zahlung i.S.d. § 64 GmbHG liege nicht vor, wenn in der Verschleppungsphase keine Verluste erwirtschaftet und so die Gläubiger nicht benachteiligt werden. M.E. geht diese Kritik der Rspr. bereits im Ansatz fehl: die Bevorzugung der Sozialkassen (und des Fiskus) erfolgen nicht durch die i.S.d. Einheit der Rechtsordnung gebotenen Entscheidungen der Rspr., insbesondere des BGH, sondern durch die gesetzlichen Regelungen, die anders als für die Nichtbedienung "gewöhnlicher" Gläubiger für die Nichtleistung der Sozialversicherungsbeiträge (und der Steuern) eine persönliche Haftung bzw. Strafbarkeit des Geschäftsführers begründen.
Rz. 746
Praxishinweis
Achtung: Auf die Pflichtenkollision kann sich der Geschäftsführer zur Verteidigung gegen die Inanspruchnahme wegen Nichtabführung der Beiträge auch nach früherer Rspr. nicht berufen, wenn er mit der Sorgfalt des ordentlichen Geschäftsmannes i.S.d. § 64 GmbHG a.F. unvereinbare Zahlungen an andere Gläubiger geleistet hat. Somit wird dem Geschäftsführer die Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in jedem Fall bis zur völligen Zahlungseinstellung und Insolvenzantragstellung zu empfehlen sein.
Rz. 747
Erneutes Auftreten des Problems:
Für die vergleichbare Pflichtenkollision mit der Haftung wegen nicht abgeführter Steuern findet sich nun in § 15b Abs. 8 InsO eine genau entgegengesetzte Auflösung des Haftungsdilemmas: gem. der genannten Regelung ist bei Einhaltung ihrer Voraussetzungen die Nichtzahlung der Steuerschulden keine Verletzung der steuerrechtlichen Zahlungspflichten (s.o. bei Steuerhaftung, Rdn 722). In der Lit. wird nun z.T. vertreten, dies gelte wegen der Vergleichbarkeit der Haftungssituation analog auch für die Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherungsbeiträge. Das halte ich nicht für richtig, weil es in § 15b Abs. 8 InsO gerade nicht geregelt wurde und auch keine ungewollte Gesetzeslücke vorliegt. Die Gesetzgebungshistorie legt den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber mit § 15b Abs. 8 InsO nur die insoweitige Rspr. des BGH und des BFH betreffend die Steuerhaftung des Geschäftsführers korrigieren, nicht aber in den Schutzgesetzcharakter der Strafvorschrift des § 266a StGB eingreifen wollte. Auch die Befürworter einer analogen Anwendung räumen daher ein, dass es keineswegs sicher ist, dass die Zivil- und Strafgerichte einheitlich eine Analogie bejahen werden. So ist es wieder einmal erforderlich und bleibt zu hoffen, dass entweder der Gesetzgeber oder die Rspr. bald Klarheit schafft.
Praxishinweis
Bis zur Klärung durch die Rspr. würde ich bei der Empfehlung zur Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung bleiben, da so einerseits das Risiko eines Strafvorwurfs wegen Nichtabführung vermieden wird und andererseits die Erfolgschance für eine Verteidigung gegen eine evtl. Inanspruchnahme nach § 15b InsO durch Hinweis auf die nach aktueller Rspr. noch gegebene Vereinbarkeit der Zahlung mit der Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers recht groß sei...