a) Bindung des Berufungsgerichts
Rz. 134
Im Hinblick auf die Beschränkung der Berufungsinstanz auf die Fehlerkontrolle und -beseitigung (siehe oben Rdn 128) hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung grundsätzlich die vom Gericht des ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 1 ZPO). Festgestellt in diesem Sinn sind nur Tatsachen, hinsichtlich derer das erstinstanzliche Gericht aufgrund einer freien Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 ZPO) die Entscheidung getroffen hat, dass sie wahr oder unwahr sind, sowie Tatsachen, die es seiner Entscheidung ohne Prüfung der Wahrheit zugrunde gelegt hat, sei es, dass sie offenkundig oder gerichtsbekannt (§ 291 ZPO), ausdrücklich zugestanden (§ 288 ZPO) oder unstreitig (§ 138 Abs. 3 ZPO) waren oder sich aus gesetzlichen Vermutungen oder Beweis- und Auslegungsregeln ergeben haben. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf sog. Rechtstatsachen: Denn den tatsächlichen Umständen stehen Tatsachen in ihrer juristischen Einkleidung gleich, wenn dies durch einen einfachen Rechtsbegriff geschieht, der jedem Teilnehmer des Rechtsverkehrs geläufig ist. Angriffs- und Verteidigungsmittel, die bereits im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesen wurden, bleiben auch im Berufungsrechtszug ausgeschlossen (§§ 531 Abs. 1, 296 Abs. 1 und 2 ZPO). Das Rechtsmittelgericht darf indes weder eine von der Vorinstanz unterlassene Zurückweisung nachholen noch die Zurückweisung auf eine andere als die von der Vorinstanz angewendete Verspätungsalternative stützen.
b) Wegfall der Bindung
Rz. 135
Die Bindung des Berufungsgerichts an die vom Vordergericht festgestellten Tatsachen entfällt, soweit konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 ZPO).
Rz. 136
Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber dagegen ausschließen.
Rz. 137
Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Beispielhaft seien insoweit für den Unfallhaftpflichtprozess benannt: Übergehen von Tatsachenvortrag oder Verwertung nicht vorgetragener Tatsachen, überspannte Anforderungen an die Substantiierung des Vorbringens, Unterlassen eines Hinweises auf ungenügendes Vorbringen, unzureichende Ermittlung ausländischen Rechts, Anwendung eines fehlerhaften Beweismaßes (§ 286 ZPO statt § 287 ZPO), unzureichende, weil unvollständige, in sich widersprüchliche oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßende Beweiswürdigung, unzulässige Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines Zeugen oder auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, Unterlassen der erneuten Anhörung eines Zeugen trotz von der Vorinstanz abweichender Würdigung von dessen Aussage (s.u. Rdn 144), Ablehnung eines Antrags auf Anhörung des Sachverständigen, Lückenhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit eines verwerteten Gutachtens oder fehlende Auseinandersetzung mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen widersprechenden Ausführungen eines Privatgutachtens. Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben oder gegen die Sachkunde oder Zuverlässigkeit von Sachverständigen sind indes nur dann beachtlich, wenn sie konkret begründbar sind.
Rz. 138
Es ist – im Rahmen einer zulässigen Berufung – ferner Aufgabe des Berufungsgerichts, das Urteil der Vorinstanz auch ohne dahingehende Rüge (§ 529 Abs. 2 S. 1 ZPO) auf konkrete Anhaltspunkte für Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Tatsachenfeststellungen zu prüfen und etwaige Fehler zu beseitigen. Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen hat das Berufungsgericht selbst dann nachzugehen, wenn es sie unabhängig vom Parteivortrag aufgrund lediglich gerichtskundiger Tatsachen gewonnen hat.
Rz. 139
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