Rz. 128

Die Berufung hat durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001[445] einen Funktionswechsel erfahren. Sie ist nicht mehr vollwertige zweite Tatsacheninstanz, sondern dient in erster Linie der Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf korrekte Anwendung des materiellen Rechts sowie auf Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Feststellungen und Beseitigung etwaiger Fehler ("Fehlerprüfung"). Die Reform hat zur Folge, dass sich die Rekonstruktion des entscheidungserheblichen Sachverhalts noch mehr auf die erste Instanz konzentriert. Die Konzentration der Tatsachenfeststellungen in erster Instanz wird dadurch bewirkt, dass das Berufungsgericht grundsätzlich an die fehlerfrei gewonnenen Erkenntnisse der ersten Instanz gebunden wird und neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur zuzulassen sind, soweit dies durch besondere Gründe gerechtfertigt ist. Von den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten wird erwartet, dass sie mit aller Sorgfalt in der ersten Instanz vortragen, um so die Konzentration der Tatsachenfeststellungen in der ersten Instanz zu verwirklichen.[446]

[445] BGBl I, S. 1887.
[446] BGH, Beschl. v. 24.11.2009 – VII ZR 31/09, NJW 2010, 376; BGH, Beschl. v. 14.7.2004 – VIII ZR 164/03, NJW 2004, 2751; kritisch zum Berufungsrecht nach der Zivilprozessreform Schellhammer, Zivilprozess, Rn 980.

1. Begrenzung durch die gestellten Anträge (§ 528 ZPO)

 

Rz. 129

Der Prüfung durch das Berufungsgericht unterliegen nur die Berufungsanträge (§ 528 S. 1 ZPO; "Verbesserungsverbot"). Das Urteil des ersten Rechtszugs darf ferner nur insoweit abgeändert werden, als eine Abänderung beantragt ist (§ 528 S. 2 ZPO). Dieses "Verschlechterungsverbot" soll verhindern, dass das Rechtsmittelgericht dem Rechtsmittelführer etwas aberkennt, was ihm im angefochtenen Urteil wirksam und mit materieller Rechtskraft (§ 322 ZPO) zuerkannt worden ist.[447] Der Berufungsbeklagte muss daher, wenn er eine Abänderung zu seinen Gunsten erreichen will, Anschlussberufung (§ 524 ZPO) einlegen, siehe unten Rdn 176. Ein Hilfsantrag des Klägers, der im ersten Rechtszug nicht beschieden wurde, weil schon der Hauptantrag Erfolg hatte, fällt allerdings allein infolge der Einlegung des Rechtsmittels durch den Beklagten im Berufungsverfahren zur Entscheidung an.[448]

 

Rz. 130

Das Rechtsmittelgericht kann allerdings ein die Klage als unzulässig abweisendes Prozessurteil auch dann durch ein sachabweisendes Urteil ersetzen, wenn nur der Kläger das Rechtsmittel eingelegt hat. Darin liegt keine Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers, weil diesem durch die Abweisung der Klage als unzulässig keine Rechtsposition irgendwelcher Art zuerkannt worden war.[449] Ebenso steht das Verschlechterungsverbot der Abweisung einer Klage durch das Rechtsmittelgericht als unzulässig nicht entgegen, wenn diese zuvor als unbegründet abgewiesen worden war.[450] Schließlich hindert das ­Verschlechterungsverbot nicht die Feststellung, dass sich der Rechtsstreit durch einen Vergleich ­erledigt hat, selbst wenn keine Partei darauf angetragen hat; denn eine Bindung (§ 528 Abs. 2 ZPO) besteht nur an die Sachanträge der Parteien, über die im Rahmen der amtswegigen Prüfung der Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich nicht entschieden wird.[451]

2. Prüfungsumfang in rechtlicher Hinsicht (§ 529 Abs. 2 ZPO)

 

Rz. 131

Innerhalb der gestellten Anträge findet – bei zulässiger Berufung – grundsätzlich eine umfassende rechtliche Prüfung der angefochtenen Entscheidung auf Fehler bei der Anwendung materiellen Rechts unabhängig von den geltend gemachten Berufungsgründen statt (§ 529 Abs. 2 S. 2 ZPO).[452]

 

Rz. 132

Verfahrensfehler, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind,[453] werden dagegen nur auf entsprechende Rüge in der Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 3 ZPO) oder Anschlussberufungsbegründung (§§ 524 Abs. 3 S. 2, 520 Abs. 3 ZPO) geprüft (§ 529 Abs. 2 S. 1 ZPO). Die Kontrolle der Tatsachenfeststellungen (§ 529 Abs. 1 ZPO) wird dadurch allerdings – zumindest nach Auffassung des Bundesgerichtshofs – nicht beschränkt, siehe unten Rdn 138.

 

Rz. 133

Eine Rechtsverletzung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO). Die Berufung kann insoweit nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat (§ 513 Abs. 2 ZPO); dies gilt allerdings nicht für die international...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge